Die europäische Staatsschuldenkrise dominiert die Schlagzeilen, und viele europäische Banken werden in der Nähe ihres halben Sachanlagewertes gehandelt. Dies lässt viele Value-Investoren nach dem Potenzial vermeintlicher Schnäppchen lechzen. Viele der europäischen Banken sehen nach den aufsichtsrechtlichen Kapitalquoten gut aus – die meisten sind in der Nähe oder oberhalb der vom Markt auferlegten Zielquote von 10 %. Hierbei werden aus unserer Sicht jedoch große Unterschiede zwischen den Unternehmen verschleiert. Wie wir im Folgenden darlegen werden, zeigen andere Messverfahren, dass viele europäische Banken unterkapitalisiert und im Vergleich zu US-Banken finanziell schlecht ausgestattet sind. Diese Banken müssen möglicherweise nicht nur kurzfristig neues Kapital aufnehmen, um sich auf Abschreibungen auf Staatsanleihen vorzubereiten, sondern auch langfristig, je mehr sich Investoren bewusst werden, wie wichtig es ist, in Banken mit stabiler Kapitalbasis zu investieren. Diese Kapitalerhöhungen werden wahrscheinlich mit sehr starken Verwässerungseffekten für die derzeitigen Aktionäre verbunden sein. Wir warnen Investoren daher vor der Vermögensfalle, in der sich viele unterkapitalisierte europäische Banken befinden, und halten uns an die überlegenen, am besten kapitalisierten und liquidesten Banken – namentlich die HSBC, Standard Chartered und Julius Baer.
Die Suche nach gut kapitalisierten Banken
Fast alle Banken weisen angemessene regulatorische Kapitalquoten aus, so dass es für Investoren im Allgemeinen schwierig ist, zwischen den besten und schlechtesten kapitalisierten Banken zu unterscheiden. Dieses Diagramm (öffnet sich in einem neuen Browser-Fenster) zeigt die Kernkapitalquote ohne Finanzinnovationen, das so genannte Core Tier 1 der größten europäischen Banken gemeinsam mit denen der vier größten US-Banken. Das Core-Tier-1-Kapital ist weitgehend dabei, Tier-1-Kapital als favorisiertes Messinstrument für die Kapitalausstattung der Banken zu ersetzen. Es misst das Verhältnis von Eigenkapital ohne Vorzugsaktien (und andere Arten von Fremdkapital-Eigenkapital-Hybriden) zu den risikogewichteten Aktiva. Wie Sie sehen können, erreichen fast alle Banken gleichermaßen die vom Markt geforderte Zielmarke von 10 % oder übertreffen diese sogar. Damit scheinen Europas Banken im Großen und Ganzen mit ihren US-Pendants vergleichbar zu sein. Einige Häuser, wie Julius Bär und UBS, ragen deutlich über diesem Niveau heraus. Auf den ersten Blick sehr ermutigend: keine der großen Banken sticht als unterkapitalisiert heraus.
Es ist allerdings Vorsicht geboten. Wir denken, dass die wichtigen Unterscheidungsmerkmale in der Eigenkapitalausstattung der Banken mit den herkömmlichen Maßstäben verborgen bleiben. Das zeigt sich in dieser Grafik. Entscheidend ist, dass die regulatorische Messung des Kapitals, wie im ersten Diagramm dargestellt, „risikogewichtete Aktiva“ im Nenner enthält, während die Zahlen in der zweiten Grafik einfacher sind und nur um Netto-Derivate angepasst werden, wie es in den US-Rechnungslegungsvorschriften Standard ist. Eine solche Risikogewichtung ist in vielerlei Hinsicht sinnvoll. Denn es ist für eine Bank natürlich viel wichtiger, mehr Kapital für ein säumiges Kreditkartendarlehen als für eine kurzfristige US-Staatsanleihe vorzuhalten: Für die Bank kann es viel eher zu Verlusten aus dem Kreditkartendarlehen kommen! Eine stärkere Betonung der risikogewichteten Aktiva ist die logische Folge, um diesen Risiken Gerecht zu werden. Es ist eigentlich trivial: Riskantere Anlagen werden höher gewichtet, Vermögenswerte, die als risikolos wahrgenommen werden, sind mit 0 % gewichtet.
Dies wirft jedoch zwei Probleme auf. Wie bei jedem regelbasierten System, können die Regeln im abstrakten Fall richtig, in konkreten Einzelfällen jedoch falsch sein. Die Berechnungen nach risikogewichteten Aktiva (Risk-weighted Assets, RWA) hängen zum großen Teil von Anleihe-Ratings ab. Wie wir jedoch erst kürzlich in vielen Fällen gesehen haben, können sich Anleihe-Ratings als ziemlich ungenau entpuppen. So erhielten beispielsweise die irischen und spanischen Staatsschulden im Frühjahr 2009 ein AAA-Rating und wurden daher in den RWA-Berechnungen der Banken mit 0 % gewichtet. Auch wenn beide Länder vermutlich an einer Insolvenz vorbeikommen werden, liegt die Wahrscheinlichkeit dafür nicht bei 100 %, sondern dürfte eher mit 80 % bis 90 % zu veranschlagen sein. Hinzu kommt, dass die europäischen Banken die Basel-II-Regeln nutzen, um ihre Eigenkapitalquoten zu berechnen, während die US-Banken die Basel-I-Regeln anwenden. Die Basel-II-Regeln geben den Banken mehr Spielraum, ihre risikobehafteten Vermögenswerte mittels interner Modelle zu bewerten. Grob gesagt, belegen diese internen Modelle, dass die Vermögenswerte weniger riskant sind, als es eine Berechnung nach Basel-I-Regeln ergeben hätte. Wir sind überzeugt, dass diese internen Modelle nicht in der Lage sind, das Risiko eines negativen Ereignisses, wie wir es vor kurzem in der Geschichte der modernen Finanzwirtschaft gesehen haben, einzubeziehen.
Anstatt sich ausschließlich auf regulatorische Kennzahlen zu verlassen, berechnen wir das Verhältnis materiellen Eigenkapitals (der hochwertigsten Art des Kapitals) zu den ungewichteten Sachanlagen, bereinigt um Netto-Derivate. Wie die Grafik zeigt, ist diese Kennzahl viel variabler. Die Dexia hat aus unserer Sicht viel zu wenig Kapital und die Crédit Agricole ist nicht weit dahinter. Die Credit Suisse und die Deutsche Bank sind ebenfalls schwach mit Kapital ausgestattet. Auch wenn diese Banken im Großen und Ganzen erfolgreich operieren und große Verluste so vielleicht unwahrscheinlich sind, zeigt diese Tabelle, dass sie relativ wenige Möglichkeiten haben, negative Überraschungen abzuschütteln. Auf der anderen Seite haben die HSBC, Standard Chartered und Julius Baer allesamt ein Kapitalniveau deutlich über den 4–5 %, die wir als erforderlich ansehen, und sind mit ihren Kennzahlen den US-Banken vergleichbar.
Einlagenfinanzierung ist ein knappes Gut
Wir befürchten, dass europäische Banken zu abhängig von der Finanzierung durch institutionelle Investoren, der so genannten Wholesale-Finanzierung, sind. Die unserer Meinung nach besten Banken sind weitgehend einlagenfinanziert. Wir favorisieren die Einlagenfinanzierung aus zweierlei Gründen. Sie ist günstig – Banken brauchen ihren Kunden für deren Einlagen nur sehr wenig zu zahlen – und die Kunden verabscheuen es in der Regel, ihre Bankkonten zu ändern, wenn sie nicht wirklich müssen.
Zudem ist die Wholesale-Finanzierung teuer und unbeständig. Die Nettozinsmargen der europäischen Banken leiden, da sie für die Refinanzierung im Interbankenhandel mehr zahlen. Zudem haben wir in den letzten Monaten viele Beispiele gesehen, wie Banken den Zugriff auf die Wholesale-Finanzierung verlieren, sobald Gerüchte über die mangelnde Zahlungsfähigkeit einer Bank aufkommen. So wurden europäische Banken fast vollständig von der US-Geldmarkt-Finanzierung abgeschnitten, die für viele europäische Banken, wie etwa der Société Générale, eine wichtige Quelle der US-Dollar-Finanzierung darstellte.
Das dritte Diagramm stellt dar, welcher Prozentsatz der Bankdarlehen durch Einlagen refinanziert ist. Wir bevorzugen Quoten um 100 % zu sehen. Über die italienischen Banken und deren relativ geringe Einlagenfinanzierung sind wir zutiefst besorgt, aber auch die Ergebnisse der Lloyds Banking Group und ihr Retail-orientiertes Geschäftsmodell machen uns nicht glücklich. Dieses resultiert weitgehend aus der HBOS-Übernahme. Auch wenn Lloyds zumindest die meisten kurzfristigen Wholesale-Refinanzierungen der HBOS in langfristige umgewandelt hat, bleibt es ein ernstes Problem im Geschäftsmodell der Bank. Fairerweise stellen wir fest, dass alle Banken, die hier mit einem Verhältnis von über 100 % angezeigt wurden, versuchen, mehr Einlagen anzuziehen. Der Wettbewerb um Einlagen könnte jedoch zu einem Nullsummenspiel werden. Wir befürchten, dass die Banken am Ende mehr bezahlen müssen, sich der gesamte Pool aller Einlagen jedoch nur geringfügig erhöht. Banken, die nicht in der Lage sind, ausreichend Einlagen anzuziehen, müssen sich dem Risiko stellen, plötzlich vom Finanzierungsmarkt abgeschnitten zu sein – oder zu schrumpfen. Wir sehen jedoch mit Freude, dass manche Banken bereits über eine solide Grundlage der Einlagenfinanzierung – vergleichbar mit denen von US-Banken – verfügen. Die HSBC, Standard Chartered und Julius Bär befinden sich unter diesen.
Wir raten Investoren, unterkapitalisierte europäische Banken zu meiden. Wir gehen davon aus, dass viele von ihnen in den kommenden Monaten rekapitalisiert werden müssen, ob durch die Aktionäre oder die Regierungen. Die Rekapitalisierungen werden angesichts der derzeitigen Kurse mit Sicherheit zu einer deutlichen Verwässerung führen. Während der Subprime-Krise wurden viele Bezugsrechte zu lediglich etwa 65 % des Marktpreises am Tag der Ankündigung angeboten. Aber wir denken auch, dass der Druck auf die Aktienkurse europäischer Banken Chancen für langfristig orientierte Anleger geschaffen hat. Die HSBC, Standard Chartered und Julius Baer haben allesamt sehr unterschiedliche Geschäftsmodelle, sie verfügen aber alle über eine starke Kapital-und Liquiditätsausstattung, wie sie selten unter den vergleichbaren europäischen Banken ist.