Die Europäische Zentralbank dürfte ihren Zinssenkungszyklus im Jahr 2025 fortsetzen. Analysten rechnen mit moderaten Zinssenkungen von jeweils 0,25 Prozentpunkten, wahrscheinlich in jeder der vier geldpolitischen Sitzungen in der ersten Jahreshälfte - auch wenn angesichts der geopolitischen Unsicherheiten, die sich auf die Inflation und das Wachstum im Euroraum auswirken könnten, der Gesamtumfang offen bleibt.
Die Zinssenkungen der EZB 2025 hängen von Inflation ab
“Es wird erwartet, dass die EZB im Jahr 2025 erneut mit Zinssenkungen den Weg vorgibt”, so Michael Field, europäischer Marktstratege bei Morningstar.
“Der Markt preist derzeit Zinssenkungen um 100 Basispunkte ein, während sowohl die US-Notenbank als auch die Bank of England nur etwa die Hälfte dieses Niveaus erwarten. Dies hängt natürlich davon ab, dass die Inflation in Europa unter Kontrolle bleibt. Mit 2,4 % ist sie die niedrigste der drei Regionen, aber sollte sie ansteigen, sind im Grunde alle Wetten verloren.”
EZB-Chefvolkswirt Philip R. Lane betonte in einem Interview mit der österreichischen Zeitung Der Standard die Notwendigkeit eines ausgewogenen geldpolitischen Ansatzes, um die Inflation zu steuern, ohne eine Rezession auszulösen. Er sagte auch, dass die EZB ihre geldpolitischen Entscheidungen weiterhin datenabhängig treffen und flexibel auf wirtschaftliche Entwicklungen reagieren werde, und wiederholte damit frühere Aussagen von EZB-Präsidentin Christine Lagarde, dass die Bank keine Forward Guidance geben werde.
Die EZB begann ihren Zinssenkungszyklus im Juni, pausierte im Juli und setzte ihre Zinsanpassungen im September, Oktober und Dezember fort. Mit Stand vom 18. Dezember liegen die drei EZB-Leitzinsen bei:
- Zinssatz der Einlagefazilität: 3,00%
- Hauptrefinanzierungssatz: 3,15%
- Spitzenrefinanzierungsfazilität: 3,40%
Wie viele Zinssenkungen der EZB erwartet der Markt?
Nach den Zinssenkungen um insgesamt 100 Basispunkte im Jahr 2024 würden die erwarteten vier oder fünf weiteren Zinssenkungen im Jahr 2025 den Einlagensatz bis Ende des Jahres auf 1,75 % bis 2 % senken.
Die DWS rechnet mit Zinssenkungen von jeweils 0,25 Prozentpunkten auf den nächsten vier Sitzungen des EZB-Rates im Januar, März, April und Juni. “Die EZB wird vermeiden wollen, einen Fehler zu begehen, indem sie zu stark agiert und einen Verlust an Glaubwürdigkeit riskiert”, sagte Ulrike Kastens, Europaökonomin bei der DWS, am 13. Januar gegenüber Morningstar.
“Größere Zinsanpassungen von 0,5 Prozentpunkten erwarte ich nur, wenn sich die wirtschaftliche Lage in der Eurozone deutlich verschlechtert”, fügte sie hinzu.
Die DWS geht davon aus, dass der Leitzins zuletzt 1,5 % erreichen wird, allerdings erst im Jahr 2026.
Bastian Freitag, Leiter der Abteilung für festverzinsliche Wertpapiere in Deutschland bei Rothschild & Co, erwartet im Basisszenario ebenfalls vier Zinssenkungen im Jahr 2025. Diese Senkungen werden wahrscheinlich schrittweise in 25-Basispunkt-Schritten erfolgen. Er erwartet einen datengesteuerten und vorsichtigen Ansatz der EZB ohne vorzeitige Verpflichtungen, sagte er in einem Interview mit Morningstar am 10. Januar.
Ist ein neutraler Zinssatz realistisch?
Freitag sieht die Diskussion um den neutralen oder endgültigen Zinssatz, also das Niveau, bei dem die Geldpolitik das Wachstum weder anreizt noch einschränkt, als zentrales Thema für das erste Halbjahr 2025. Der neutrale Zinssatz wird von der EZB auf 1,75 % bis 2,5 % geschätzt, während Freitag den langfristigen neutralen Zinssatz eher in der Spanne zwischen 2 % und 2,5 % ansiedelt.
Amundi senkte kürzlich die Prognosen für den Endzinssatz auf 1,75%. Während bei der Fed Ungewissheit herrscht, wird die EZB aufgrund der schneller sinkenden Inflation voraussichtlich taubenhafter sein, schrieb der französische Vermögensverwalter in seinen Global Investment Views vom Januar 2025.
“Wir haben die Zinserwartungen der EZB um 50 Basispunkte auf 1,75% gesenkt, die im Juli 2025 erreicht werden sollte”, schreibt der Vermögensverwalter. Amundi erwartet fünf Zinssenkungen von jeweils 0,25 Prozentpunkten bei jeder der fünf Sitzungen des EZB-Rats, einschließlich der im Juli.
Warum steigen die Anleiherenditen bei sinkenden Zinsen?
Trotz sinkender EZB-Leitzinsen sind die Anleiherenditen in der Eurozone gestiegen, was auf Faktoren wie die globale Marktdynamik und die Entwicklung der US-Staatsanleihen zurückzuführen ist. Diese Situation untergräbt die beabsichtigte entspannende Wirkung von Zinssenkungen auf die Kreditbedingungen, da höhere Anleiherenditen höhere Kreditkosten für Regierungen und Unternehmen bedeuten, was das Wirtschaftswachstum bremsen könnte, so Kastens.
Dies ist gewissermaßen eher kontraproduktiv, da die Bemühungen der EZB zur Ankurbelung der Wirtschaft teilweise durch marktgetriebene Faktoren ausgehebelt werden, sagte sie gegenüber Morningstar.
Die Renditen deutscher Bundesanleihen stiegen Ende 2024 stark an, wobei die 10-jährigen Renditen von 2,02% im Dezember auf 2,65% im Januar 2025 kletterten. Dies spiegelt die steigenden Renditen von US-Staatsanleihen wider, die von der Sorge um die US-Finanzpolitik, einschließlich möglicher Steuersenkungen und steigender Schulden, geprägt sind, so Kastens weiter. Darüber hinaus hat die Inflation in der Eurozone und insbesondere in Deutschland mit höheren Werten als gedacht überrascht.
Zudem haben die natoinalen Zentralbanken der Eurozone ihre Kapitalwiederanlage im Rahmen des Pandemie-Notkaufprogramms der EZB (PEPP) Ende 2024 eingestellt, so Shannon Kirwin, Manager Research Analystin bei Morningstar.
“Das Auslaufen des PEPP senkt die Nachfrage, während gleichzeitig viele Anleger davon ausgehen, dass die Emission von Staatsanleihen durch Deutschland und Frankreich in Zukunft zunehmen wird, da die Regierungen ihre Ausgaben erhöhen könnten, was wiederum das Angebot vergrößert”, sagt sie. Deutschland könnte eventuell auch seine strenge Schuldenbremse nach den vorgezogenen Bundestagswahlen am 23. Februar lockern.
Kastens merkte auch an, dass die Spreads in der Eurozone trotz zunehmender fiskalischer Bedenken stabil geblieben sind: “Während die Situation in Frankreich aufgrund höherer Haushaltsdefizite und politischer Instabilität Aufmerksamkeit erregt hat, haben sich die Spreads zwischen französischen und deutschen Anleihen bisher nicht wesentlich ausgeweitet. Dies bleibt jedoch ein potenzieller Risikofaktor.”
Eine politische Krise in Frankreich nach gescheiterten Haushaltsreformen hat Bedenken hinsichtlich der Tragfähigkeit der Staatsverschuldung aufkommen lassen.
Kastens betont zudem, dass das Transmissionsschutzinstrument (TPI) der EZB ein Sicherheitsnetz bietet. “Anders als während der Staatsschuldenkrise in den 2010er Jahren hat die EZB die Möglichkeit zu intervenieren”, sagte sie.
Inflation in der Eurozone auf holprigem Weg nach unten
Die Gesamtinflation in der Eurozone ging im Dezember 2024 auf 2,4 % zurück, nachdem sie Ende 2022 einen Höchststand von 10 % erreicht hatte. Die von den Dienstleistungen getriebene Kerninflation bleibt mit 2,7 % auf einem hohen Niveau. EZB-Ökonom Lane wies auf die Herausforderung hin, die Dienstleistungsinflation, die derzeit bei 4 % liegt, zu senken, damit die Inflation dauerhaft 2 % erreicht.
Die Mitarbeiter der EZB gehen von einer durchschnittlichen Gesamtinflation aus:
- 2,4% im Jahr 2024 (gegenüber 2,5% in der September-Prognose der Bank)
- 2,1% im Jahr 2025 (statt 2,3%)
- 1,9% im Jahr 2026 (statt 2,0%)
- 2,1% im Jahr 2027, wenn das erweiterte EU-Emissionshandelssystem in Kraft tritt. Dies ist das erste Mal, dass die Ökonomen der Bank eine Prognose für das Jahr 2027 abgeben;
Für die Inflation ohne Energie und Nahrungsmittel (Kerininflation) rechnen die Experten mit einem Durchschnitt von 2,9 % im Jahr 2024, 2,3 % im Jahr 2025 und 1,9 % in den Jahren 2026 und 2027.
Bastian Freitag von Rothschild & Co geht davon aus, dass die Inflation in der Eurozone einen holprigen Verlauf nehmen wird, wobei die Schwankungen durch die Volatilität der Energiepreise und geopolitische Risiken beeinflusst werden.
“Die Kerninflation, insbesondere im Dienstleistungssektor, bleibt aufgrund des Lohndrucks robust, dürfte aber im Laufe des Jahres 2025 allmählich nachlassen”, sagte er.
“In Deutschland tragen die CO₂-Steuererhöhung und die steigenden Preise für öffentliche Verkehrsmittel erheblich zur Inflation bei, während die Energiepreisdynamik, einschließlich der Volatilität der Gaspreise, weiterhin wichtige Faktoren sind, die es zu beobachten gilt.”
Wirtschaftsabschwächung in der Eurozone
Die schrittweisen Zinssenkungen der EZB im Jahr 2024 wurden von einigen Wirtschaftswissenschaftlern kritisiert. In einer Umfrage der Financial Times sagte fast die Hälfte der 72 Befragten, die Zentralbank sei “hinter der Kurve zurückgeblieben” und sei zu langsam gewesen, um der stagnierenden Wirtschaft der Eurozone zu helfen.
Die Wachstumsaussichten der Region für 2025 bleiben fragil. Analysten warnen, dass die potenzielle Einführung von Zöllen durch die Trump-Administration die bereits schwache wirtschaftliche Dynamik der Region weiter belasten könnte, da sie den Handel stört und die Kosten für Schlüsselindustrien erhöht.
Deutschland, die größte Volkswirtschaft der Europäischen Union, stagniert seit drei Jahren, was auf strukturelle Schwächen im verarbeitenden Gewerbe und in energieintensiven Sektoren zurückzuführen ist. Die Bundesbank prognostiziert, dass das deutsche BIP im Jahr 2025 um 0,2 % schrumpfen wird, was in starkem Kontrast zu anderen europäischen Volkswirtschaften steht. Den Prognosen zufolge wird Spanien mit einem BIP-Anstieg von etwa 2 % das Wirtschaftswachstum der wichtigsten Volkswirtschaften der Eurozone anführen.
Trotz dieses Gegenwinds gibt es bei einigen Analysten einen Schimmer von vorsichtigem Optimismus. Bastian Freitag von Rothschild & Co. geht von einem “leicht konstruktiven Ausblick” für die wirtschaftliche Entwicklung im Jahr 2025 aus, für das er leichte Verbesserungen erwartet. Er warnt jedoch vor geopolitischen und strukturellen Risiken, die das Wachstum dämpfen könnten, darunter Zölle.
Wachstumsprognosen der EZB-Mitarbeiter für die Eurozone
- 0,7% im Jahr 2024 (gegenüber 0,8% im September)
- 1,1% im Jahr 2025 (statt 1,3%)
- 1,4% im Jahr 2026 (statt 1,5%)
- 1,3% im Jahr 2027 (erste Schätzung)
Wie werden sich Zinssenkungen auf die Märkte auswirken?
Die Aktienmärkte tendieren zu einem Anstieg, wenn Zinssenkungen erwartet werden. Auf den Anleihemärkten bedeuten sinkende Zinssätze niedrigere Renditen, was die Anleihekurse nach oben treibt. Niedrigere Zinsen machen auch bestehende Anleihen, insbesondere solche, die bereits während einer Hochzinsphase begeben wurden, für die Rendite attraktiver.
In der Zwischenzeit werden die Sparzinsen auf Bankkonten wohl sinken, zum Nachteil der Sparer. Die Zinssätze, die Sparer erhalten, hängen größtenteils von der Einlagefazilität ab, die festlegt, welche Zinsen Banken für die Einlage von Geld bei der EZB über Nacht erhalten. Kreditnehmer hingegen profitieren von niedrigeren Zinsen, da Verbraucherschulden und Hypotheken billiger werden.
“Niedrigere Zinssätze dürften 2025 einen erheblichen Rückenwind für europäische Aktien bedeuten”, so Field von Morningstar. Europäische Aktien werden derzeit mit einem attraktiven Abschlag im Vergleich zu ihren US-amerikanischen und globalen Konkurrenten gehandelt.
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