Wird das 1,5-Grad-Ziel in Dubais Wüste begraben?

Die Delegierten werden sich auf der COP28 auf das 1,5-Grad-Ziel konzentrieren, aber es gibt noch viel mehr zu diskutieren, wie unsere ESG-Experten betonen.

James Gard 27.11.2023
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Climate protest

Anfang des Monats beantwortete ein Gremium aus Morningstar-Expertinnen und Experten bei einer Veranstaltung in London Fragen der britischen Finanzpresse. Thema war die bevorstehende COP28-Konferenz in Dubai. Hier sind die fünf Schlüsselthemen, die sich herauskristallisierten.

Das Grad-Ziel ist wichtig

Die Delegierten werden sich darauf konzentrieren, ob das 2015 in Paris auf der COP21 vereinbarte globale Erwärmungsziel von 1,5 Grad noch erreichbar ist. Daher wird auf dem Gipfel eine globale „Bestandsaufnahme“ der Kohlenstoffemissionen bekannt gegeben, und es besteht ein wachsender Konsens darüber, dass „die Welt den Wettlauf um die Erreichung des Ziels verliert“, sagt Hortense Bioy, Global Director of Sustainability Research bei Morningstar.

Ihr zufolge bestehe die Möglichkeit, dass das 1,5-Grad-Ziel „in der Wüste von Dubai stirbt“, nachdem es auf der COP26 schon ums Überleben kämpfen musste und auf der COP27 in Ägypten letztes Jahr nur noch am Tropf hing. Tatsächlich zeigen Morningstar-Daten, dass 87% der Unternehmen auf einen globalen Temperaturanstieg von 2,1% zusteuern. Deshalb werden sich die Delegierten und die Medien weltweit auf die Überschreitung konzentrieren.

Allerdings besteht auch die Gefahr, dass der Fokus zu eng wird, argumentiert Anya Solovieva, globale Leiterin für Klimalösungen bei Morningstar Sustainalytics. Die OECD-Länder seien bereits auf Netto-Null-Ziele ausgerichtet, argumentiert sie, so dass die Diskussion über 1,5 oder 1,6 Grad eher begrenzt erscheint.

 

Die Gefahr des Pessimismus

Der Tenor ist also bereits festgelegt. Aber Bioy spricht sich auch gegen unangemessenen Pessimismus aus: „Es ist wichtig, dass wir nicht dem 'Doomismus' erliegen. Das führt zum Rückzug, der nur schlechte Akteure begünstigt, die einen Business-as-usual-Ansatz bevorzugen“, sagt sie.

Wenn die Welt aber in Bezug auf die Ziele bereits vom Kurs abgekommen ist, dann ist es doch sicher an der Zeit, sie zu lockern und das Pariser Ziel auf etwas realistischeres umzustellen? Bioy sagt, dass dies im Hinblick auf die Folgewirkungen auf bestehende und zukünftige Investitionspläne kontraproduktiv sein könnte. Selbstzufriedenheit ist der Feind.

„Eine Verschiebung der Zielvorgaben könnte dazu führen, dass der Privatsektor notwendige Investitionen verzögert, um seine Unternehmen schneller zu dekarbonisieren“, argumentiert sie. Und dazu gehören technologische Entwicklungen wie die Kohlenstoffabscheidung, -speicherung und die Direct Air Capture (DAC), bei der CO2 aus der Atmosphäre entfernt wird. Sogar der Sektor der fossilen Brennstoffe verlangt mehr Investitionen, um den Übergang zu bewältigen.

Unternehmen hätten noch Zeit, in kohlenstoffarme Technologien zu investieren, argumentiert sie.

 

Reden wir übers Geschäft

Die jüngsten COP-Gipfeltreffen haben wiederholt die Bedeutung von Wirtschaft und Finanzen für die Erreichung des Netto-Nullpunkts hervorgehoben. „Die Diskussion hat sich bereits dahingehend verlagert, wie Finanzen zur Eindämmung und Anpassung an den Klimawandel beitragen können“, sagt Lindsey Stewart, Director of Investment Stewardship Research bei Morningstar.

Da uns der Klimawandel in Form extremer Hitze in den Jahren 2022 und 2023 bereits vor Augen geführt wurde, liegt der Fokus nun darauf, was wir tun können, um uns an die aktuelle Situation anzupassen.

„Anpassung wird ein zentrales Schlagwort auf der COP28 sein, und Investoren müssen eine Rolle dabei spielen“, sagt er. Er argumentiert jedoch, dass Finanzen, politische Entscheidungsträger und Regierung sich nun darauf konzentrieren müssen, bereits gemachte Versprechen einzulösen.

Für die Finanzwelt seien Ziele ebenso wichtig wie die Festlegung dessen, was Investoren von dem Prozess erwarten, sagt Stewart. Für Solovieva von Morningstar Sustainalytics ist dies ein drängendes Diskussionsfeld, das Investoren heute bereits führen – es reicht nicht mehr aus, zu wissen, dass es ein Klimaschutzziel gibt.

„[Investoren müssen wissen] welche Maßnahmen die Unternehmen heute ergreifen, um ihnen die Gewissheit zu geben, dass das Unternehmen auf dem richtigen Weg ist, seine zukünftigen Verpflichtungen zu erfüllen“, sagt sie.

Die Exposition gegenüber Klimarisiken sei ein zentraler Teil dieses Diskurses, sagt sie, und dies werde auch nach Ende der Konferenz nachhallen.

 

Praktische Fragen, passive Produkte

ESG-Themen sind bereits ein wesentlicher Bestandteil des Anlageprozesses, sagt Rob Edwards, Direktor für Produktmanagement bei Morningstar Indexes. Das war ein zentrales Ergebnis einer kürzlich von Morningstar durchgeführten Umfrage unter Asset Ownern. Und hier können Indizes und Benchmarks auch hilfreich sein, um festzustellen, ob Unternehmen außerhalb der Zielvorgaben liegen. Vorausschauende Klimakennzahlen seien wichtig, da ein Großteil der Wissenschaft hinter der Messung des Klimawandels bisher rückblickend sei, fügt er hinzu.

Auf der COP28 erwartet er einen erneuten Fokus auf die Rolle passiver Investitionen bei der Finanzierung der "Netto-Null". Das wird die Debatte noch einmal auf Themen wie Biodiversität und Wasserrisiken lenken. Produkte entwickeln sich schnell weiter, da die regulatorische Belastung zunimmt, fügt er hinzu.

 

Anleger werden klüger

Apropos nachhaltige Fonds und Aktien: Beide erlebten in der Pandemie-Ära einen Boom. Aber nachhaltiges Investieren bedeutet nicht einfach, auf einen fahrenden Zug aufzuspringen und zu hoffen, dass er in die richtige Richtung geht – wie wir an den ESG-Leistungszahlen des letzten Jahres gesehen haben.

Ein Teil davon ist auf die Unsicherheit darüber zurückzuführen, wie die Zukunft aussehen wird, wie schlimm die Auswirkungen des Klimawandels sein werden und wie effektiv unsere Versuche, sie abzumildern, sein könnten. Daher bleibt die Szenarioplanung für Aktien- und Anleiheinvestoren wichtig, sagt Nicolo Bragazza, Portfoliomanager bei Morningstar Investment Management Europe.

„Wir wissen nicht genau, wie die Zukunft aussehen wird“, sagt er. Der Weg zu Netto-Null bietet Anlegern also Chancen und Herausforderungen. Aktien alternativer Energien haben sich seit dem Pariser Abkommen im Jahr 2015 schlechter entwickelt, stellt er fest, was angesichts der weltweiten Anstrengungen zur Bekämpfung des Klimawandels kontraintuitiv ist.

„Wachstumschancen führen nicht immer zu Investitionsmöglichkeiten“, sagt er. Anleger müssen sich auf traditionelle Finanzkennzahlen wie Bewertungen konzentrieren und dürfen nicht zu viel für Vermögenswerte bezahlen.

„Sie müssen auch über die allgemeine Robustheit ihrer Portfolios nachdenken und dabei Investitions- und Klimarisikoüberlegungen auf der Grundlage der Ziele der Kunden abwägen“, stellt er fest.

Ein weiterer Faktor ist, dass die Anleger realistischer geworden sind, was die Auswirkungen der Bekämpfung des Klimawandels auf das Bruttoinlandsprodukt angeht. „Der Weg zu Netto-Null wird sehr teuer sein“, sagt er.

Wie wir letztes Jahr gesehen haben, ist nachhaltiges Investieren angesichts des Krieges in Europa nicht immun gegen globale Ereignisse. Bioy stimmt dem zu und sagt, der Ukraine-Krieg habe viele Widersprüche in der ESG-Bewegung offengelegt, von denen einige auf dieser COP-Konferenz noch einmal zur Sprache kommen werden.

Das „S“ des ESG könne nun als „Sicherheit“ betrachtet werden, sagt sie. Da die Geopolitik erneut in den Vordergrund rückt, müsse sich noch zeigen, ob ihre Rolle Hilfe oder Hindernis bedeute.

 

Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Panels:

Hortense Bioy, Global Director of Sustainability Research, Morningstar

Rob Edwards, Director of Product Management, Morningstar Indexes

Lindsey Stewart, Director, Investment Stewardship Research, Morningstar

Anya Solovieva, Global Head of Climate Solutions, Morningstar Sustainalytics

Nicolo Bragazza, Portfolio Manager, Morningstar Investment Management Europe

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Über den Autor

James Gard  ist Redakteur bei Morningstar.