Jetzt zuschlagen im stark unterbewerteten Automobilsektor?

Die Autoverkäufe in Europa stiegen im ersten Halbjahr 2023 um 17,9%. Das bedeutet, dass sich die Automobilindustrie offenbar auf einem gesunden Wachstumspfad befindet. Allerdings notieren die Aktienkurse der großen europäischen Automobilhersteller und Zulieferer derzeit zumeist deutlich unter dem Fair Value, den Morningstar für diese Aktien berechnet. Sind Automobil-Aktien also interessante Schnäppchen?

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volkswagen zwickau

Der Schlüsseldatenpunkt für die Antwort liegt in der Entwicklung der Neuwagenbestellungen in den kommenden Quartalen. Denn entgegen der aktuellen Verkaufsstatistik sind die Neubestellungen für Autos rückläufig. Verbraucher sind aufgrund der hohen Inflation und der Rezessionsängste zögerlich. Wir tauchen mit dem Morningstar-Autoanalysten Richard Hilgert in die Trends in der Automobilbranche ein. 

Die hohen Umsätze (gemessen in Neuzulassungen) der letzten Monate sind zu einem großen Teil auf die verzögerte Erfüllung von Aufträgen zurückzuführen, die aufgrund der Chip-Knappheit nicht abgearbeitet werden konnten. Diese störenden Komponenten sind teilweise  immer noch spürbar, aber als sie nachließen, stiegen die Umsätze.

Der europäische Automobilherstellerverband ACEA verzeichnete in den letzten sechs Monaten Wachstumsraten bei den Neuzulassungen zwischen 11,3% im Januar und 28,8% im März. Diese Zahlen verdeutlichen den Aufholprozess, den die Branche hinlegt. Die meisten der größten Märkte Europas wuchsen deutlich: Spanien mit +24 %, Italien +22,8 %, Frankreich +15,3 % und Deutschland +12,8 %.

 

Neue Aufträge entscheidend

Nachdem die Automobilhersteller ihre Auftragsrückstände weitgehend abgebaut haben, kommt es nun auf die Neubestellungen an. Und diese Nachfrage ist geringer als zuvor. So verzeichnete der Verband der Automobilindustrie (VDA) im ersten Halbjahr einen Rückgang der inländischen Auftragseingänge seiner deutschen Mitglieder um 27%. Die Bestellungen aus anderen Ländern gingen bei deutschen Automobilherstellern im Halbjahr um 5% zurück - und der Trend zeigt eher nach unten: im Juni lag der Rückgang bei 12%.

Die Zurückhaltung der Verbraucher ist auf die hohe Inflation zurückzuführen, die die Haushalte davon abhält, sich ein neues Auto zu kaufen. Die Einzelhandelspreise sind stark gestiegen. Zudem verteuern steigende Zinsen die Finanzierung eines Autos deutlich.

Diese Zurückhaltung wird laut Hilgerts Prognosen im gesamten Jahr 2023 zu einem verhaltenen Wachstumsanstieg der Autoverkäufe in Europa und dem Vereinigten Königreich zwischen 1 und 5% führen. Er geht davon aus, dass die Nachfrage anziehen wird, sobald die Rezessionsängste ihren Höhepunkt überschritten haben. Von 2024 bis 2025 sieht der Analyst eine wieder steigende Nachfrage und einen Anstieg der Zulassungszahlen von 12,8 Millionen Autos im Jahr 2023 auf 15,8 Millionen im Jahr 2027.

 

Hindernisse in der Produktion

Auch die Produktion der Automobilhersteller wird wieder steigen. „Die Produktion ist derzeit noch relativ gering. Wir sind jetzt im vierten Jahr der eingeschränkten Produktion“, sagt Hilgert. Die Volumina waren laut ACEA-Daten im ersten Halbjahr 2023 rund 21% niedriger als 2019, dem letzten vollständigen Jahr vor Covid. Das liegt vor allem daran, dass die Chipindustrie nicht liefern kann, was die Autoindustrie braucht, betont Hilgert. Wenn diese ihre Kapazitäten erweitert und lokale Lieferketten stärkt oder aufbaut, kann die Autoproduktion aber hochgefahren werden.

Wenn die Branche den Punkt erreicht, an dem Produktion und Lieferungen besser mit den Bestellungen im Einklang stehen, werden die Umsätze und Gewinne der Automobilunternehmen auf das Niveau steigen, das durch die aktuellen Fair Values von Morningstar impliziert werden. Die derzeit niedrigen Marktbewertungen von Automobil-Aktien sind auf die langanhaltenden Störungen während der Corona-Zeit zurückzuführen.

Im ersten Halbjahr 2021 erholten sich die Autoaktien in Erwartung einer höheren Nachfrage und Produktion. Da diese Erwartungen nicht erfüllt wurden, folgte im ersten Quartal 2022 ein Verkauf. Und so sind wir dort gelandet, wo wir jetzt sind: zum Beispiel bei einem Aktienkurs von Volkswagen um die 120 Euro und einem Fair Value von 338 Euro. BMW gehört ebenso wie General Motors zu Hilgerts Favoriten und notiert an der Deutschen Börse in Frankfurt bei etwa 110 Euro, der faire Wert liegt bei 157 Euro.

 

Unterbewertet oder nicht?

Ist der Autosektor also unterbewertet? Aus Sicht von Morningstar haben der unerwartete Nachfragerückgang ab 2021 und die darauf folgenden Produktionsprobleme zu erheblichen Preisnachlässen geführt. Analyst Hilgert: „Der Markt prognostiziert eine stärkere Nachfrage, diese ist aber aufgrund der aktuellen Unsicherheiten jedoch noch nicht sichtbar.“

Sobald die höhere Nachfrage sich also realisiert, dürften Automobil-Aktien steigen. Wenn die Nachfrage nach Autos im Jahr 2025 aber ihren Höhepunkt erreicht und es bis dahin keine Anreize zur Steigerung der Nachfrage gibt, werden die Aktien wohl auch wieder abverkauft.

 

 

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Über den Autor

Robert van den Oever  Robert van den Oever ist Research Editor bei Morningstar in Amsterdam