Alarm an den Märkten: Das Ausfallrisiko steigt. Aber wie groß ist die Gefahr wirklich?

Das Insolvenzrisiko von Unternehmen, die Aktien und Anleihen emittieren, steigt 2023 stetig. Gründe hierfür sind die Inflation, die hohen Zinsen und das Gespenst einer wirtschaftlichen Rezession. All das muss jedoch nicht zu einem vollständigen Ausfallzyklus führen.

Fabrizio Guidoni 28.06.2023
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Grafici e squalo che attacca una persona

Eines der Risiken, das 2023 in den Vordergrund rückt, ist ohne Zweifel das Ausfallrisiko. Die stark steigende Inflation, die die Zinssätze in die Höhe treibt, und die weltweite Rezession, die zwar noch nicht unmittelbar bevorsteht, aber wohl Anfang 2024 eintreten wird, sind die Hauptursachen für den weltweiten Anstieg der Ausfallraten. Doch wie real ist dieses Risiko? Und wie stark könnte es sich auf die Finanzmärkte auswirken?

Das Ausfallrisiko besteht darin, dass der Emittent eines Wertpapiers, etwa einer Anleihe oder Aktie, seine Schulden nicht begleichen wird. Handelt es sich bei dem Emittenten um ein börsennotiertes Unternehmen, so ist klar, dass ein Zahlungsausfall zu einem starken Rückgang des Aktienkurses führt, weil die Aktionäre des Unternehmens im Allgemeinen weniger Garantien haben, ihr investiertes Geld zurückzuerhalten, als die Gläubiger. In der Realität ist das jedoch nicht immer der Fall, wie uns der jüngste Insolvenzfall der Credit Suisse lehrt, bei dem die Gläubiger von At2-Anleihen weitaus stärker benachteiligt wurden als die Aktionäre.

Außerdem kann sich das Ausfallrisiko über eine Vielzahl von Kanälen äußern. Es kann sogar Unternehmen des Finanzsektors über den Rohstoffmarkt treffen. Das geschah zu Beginn des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine, als der dadurch ausgelöste Preisanstieg für bestimmte Rohstoffe zu einer Explosion der Margin Calls für an diese Rohstoffe gebundene Derivate führte. Die Folge war eine Krise mit Zahlungsausfällen von Finanzinstituten, die nicht ausreichend abgesichert waren, um auf die Explosion der Margin Calls zu reagieren.

Was das Thermometer über europäische Hochzinsanleihen aussagt

Wie groß ist das Ausfallrisiko heute? Eine Messgröße ist die erwartete Ausfallquote der emittierenden Unternehmen, die wiederum von der aktuellen und künftigen Kreditwürdigkeit des Emittenten und der geldpolitischen Region abhängt, aus der er kommt. Im Fall der Eurozone sind es Emittenten, die von der EZB beaufsichtigt werden. Das Thermometer für das Ausfallrisiko schlägt am stärksten bei der erwarteten Ausfallrate der am wenigsten kreditwürdigen Unternehmen aus, d. h. bei denjenigen mit Anleihen, die der Unterklasse der hochverzinslichen Anleihen zugeordnet werden können. Wie die Analysten von S&P Global Ratings erklären, könnte die Ausfallquote der europäischen Unternehmen mit spekulativer Bonität bis Juni 2023 auf 3 Prozent steigen.

Im Einzelnen schätzen die Experten, dass die Ausfallquote europäischer Unternehmen mit spekulativem Rating bis März 2024 auf 3,6 Prozent ansteigen könnte, gegenüber 2,8 Prozent im März 2023. Der Grund dafür? Die Kombination aus steigenden Zinssätzen, verlangsamtem Wachstum und immer noch hohen Produktionskosten könnte zu geringeren Gewinnen und höheren Ausfällen führen, insbesondere bei notleidenden Krediten und außergerichtlichen Umstrukturierungen. Die Experten von S&P Global Ratings erklären: "Eine anhaltende Wachstumsverlangsamung oder Rezession könnte die Ausfallquote in unserem pessimistischen Szenario auf 5,5 Prozent ansteigen lassen. Und wenn die Kerninflation hoch bleibt, werden die Zentralbanken ihre Politik über die derzeitigen Erwartungen hinaus straffen müssen, was weitere Auswirkungen auf Ausgaben, Investitionen und Cashflows haben wird. Vieles wird davon abhängen, wie sich Inflation und Wirtschaftswachstum in den kommenden Monaten entwickeln. Obwohl das nicht Teil der Basisprognose von S&P ist, könnten die Zinsen sinken, wenn sich der jüngste Rückgang der Gesamtinflation in einem Rückgang der Kerninflation niederschlägt, was die Marktnachfrage nach risikoreicheren Anleihen erhöhen würde, wenn auch nicht bis auf das Niveau von 2021."

Zahlungsausfälle in den USA nehmen zu

Eine kürzlich von Moody's Investors Service veröffentlichte Bewertung verstärkt die Erwartung eines steigenden Ausfallrisikos. Nach Angaben der Experten von Moody's gerieten im Mai 16 der von der Agentur weltweit überwachten Unternehmen in Verzug, verglichen mit 12 zuvor. "In diesem Jahr hat Moody's bisher insgesamt 62 Ausfälle verzeichnet", heißt es in einer Mitteilung der Ratingagentur, davon 42 in Nordamerika (41 in den USA und einer in Kanada). In den USA hat sich die Zahl der Ausfälle von 16 im gleichen Zeitraum des Jahres 2022 mehr als verdoppelt. Die übrigen Ausfälle wurden in Europa (11), Lateinamerika (7) und im asiatisch-pazifischen Raum (2) verzeichnet.

Auch Schweizer Unternehmen sind vom Insolvenzrisiko betroffen

Ein weiterer deutlicher Beleg dafür, dass das Ausfallrisiko weltweit zunimmt, kommt aus der wohlhabenden Schweiz. Bereits durch die Krise der Credit Suisse geprägt, wird das Jahr 2023 laut Wirtschaftsinformationsunternehmen Dun & Bradstreet (D&B) eine Welle von Firmenkonkursen sehen. Die Zahlen lassen wenig Raum für Zweifel. In den ersten drei Monaten des Jahres mussten in der Schweiz 1.624 Unternehmen wegen Insolvenz schließen, 36 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum 2022. "Das schwierigere wirtschaftliche Umfeld hat dazu geführt, dass vielen Schweizer Unternehmen im ersten Quartal die Luft ausgegangen ist und sie Insolvenz anmelden mussten", sagen die D&B-Experten

Besteht nun eine Ausfallgefahr oder nicht?

Die Einschätzung der Analysten hinsichtlich des Ausfallrisikos scheint insgesamt eher auf eine Verschlechterung der Fundamentaldaten der Emittenten hinzudeuten, nicht aber auf einen vollständigen Ausfallzyklus. Es wird darauf hingewiesen, dass die Fundamentaldaten der Unternehmen im Hochzinssektor dank einer hohen Zinsdeckung und eines relativ geringen Verschuldungsgrades derzeit insgesamt noch solide sind, obwohl sie sich in den kommenden Quartalen aufgrund der verzögerten Auswirkungen der Geldpolitik auf die Wirtschaft verschlechtern dürften. Konstantin Leidman, Portfoliomanager für festverzinsliche Wertpapiere bei Wellington Management, erklärt: "Obwohl wir davon ausgehen, dass die Ausfallraten für Hochzinsanleihen steigen und im nächsten Jahr den langfristigen Durchschnitt (~4%-5%) erreichen werden, erwarten wir keinen groß angelegten Ausfallzyklus. Ein Faktor, der dazu beitragen dürfte, die Zahl der Ausfälle zu begrenzen, ist die hohe Qualität des aktuellen Hochzinsmarktes im Vergleich zu historischen Werten. Tatsächlich liegt der Prozentsatz des CCC-Ratings (der niedrigsten Qualitätstranche) im High-Yield-Segment heute bei weniger als 9 Prozent, verglichen mit fast 17 Prozent kurz vor der Krise 2008".

Generell wird der europäische Hochzinsmarkt von den Experten als besonders widerstandsfähig eingeschätzt. "Für das Jahr 2022 waren die Aussichten für die Anlageklasse leicht besorgniserregend", so Jake Lunness, Analyst für High Yield and Emerging Market Debt bei Columbia Threadneedle Investments. Die Deutsche Bank prognostizierte eine Ausfallquote von 3,8 Prozent. Trotz der Bedenken betrafen die Ausfälle im letzten Jahr weniger als 0,5 Prozent des europäischen Hochzinsmarktes, was deutlich unter dem langfristigen Durchschnitt von fast 2 Prozent liegt.

Eine weniger düstere Situation als erwartet scheint es bei Emittenten aus Schwellenländern zu geben, und zwar sowohl bei Staats- als auch bei Unternehmensanleihen. Was beispielsweise die afrikanischen Schwellenländer betrifft, so ist laut Brett Rowley, Managing Director Emerging Markets bei TCW, das Missverständnis aufgekommen, dass es in Afrika eine Gruppe von Ländern gibt, die ständig von Zahlungsausfällen bedroht sind. "Es gab ein paar von ihnen, Sambia und Ghana. Sambia zu Beginn der Pandemie und Ghana in jüngerer Zeit. Jetzt sehen wir jedoch die Kehrseite der Medaille, mit deutlichen Fortschritten in Ghana, das zum Beispiel Finanzgarantien von offiziellen Gläubigern erhalten hat", so der Experte.

Ein letzter Hinweis. Das steigende Insolvenzrisiko ist nicht nur eine Bedrohung, die Aktien- und Anleihekurse in eine Krise stürzt. Fallende Kurse aufgrund eines Anstiegs des allgemeinen Insolvenzrisikos können eine Chance für jene Anleger darstellen, die mit den Fundamentaldaten der emittierenden Unternehmen vertraut sind, sowie für jene Fonds, die sich auf Asset-Backed-Securities (ABS) mit Basiswerten spezialisiert haben, die verschiedene Engagements in notleidenden Vermögenswerten ermöglichen, einschließlich von Banken stammenden NPLs und Forderungen aus Insolvenzverfahren. Aber das sind Spiele, die nur von professionellen Anlegern gespielt und vielleicht auch gewonnen werden können.

Übersetzung der italienischen Originalversion auf www.morningstar.it

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Über den Autor

Fabrizio Guidoni  ist freischaffender Autor auf Morningstar.it mit langjähriger Erfahrung in den Themenbereichen Aktien und nachhaltiges Investment.