Wie jede Finanzkrise entwickelt sich auch die Geschichte, die derzeit die Kryptomärkte erschüttert, schnell weiter. Was wir bisher wissen: der CEO von Binance, Changpeng Zhao, hat am 8. November 2022 bekannt gegeben, dass seine Firma (die größte Kryptowährungsbörse nach Handelsvolumen) eine Absichtserklärung zur Übernahme der Konkurrenzbörse FTX unterzeichnet hat. Am nächsten Tag kehrte Binance dem Deal den Rücken und ließ die FTX-Kunden im Stich; die Preise für Kryptowährungen fielen.
Diese jüngsten Entwicklungen waren für viele auf den Kryptomärkten ein Schock inmitten des anhaltenden Konfliktes zwischen den beiden Titanen der Branche. Zhao und FTX-Gründer und CEO Sam Bankman-Fried hatten lange vor den Ereignissen miteinander gehadert – Binance war ein früher Investor in FTX –, aber der Streit hat sich in den letzten Wochen verschärft. Zhao erhöhte dann noch den Druck: er kündigte an, dass seine Firma einen großen Block von FTXs nativen Krypto-Token FTT liquidieren würde.
Zhaos Ankündigung brachte FTX trotz seines guten Rufs ins Wanken, da die Nachricht schnell auf einen Bericht von CoinDesk folgte, dass sich das Schwesterhandelsunternehmen von FTX, Alameda Research, möglicherweise mehr auf FTT verlassen hat, um sich über Wasser zu halten, als bisher bekannt.
Das verunsicherte die Märkte. Zentralisierte Börsen dienen häufig auch als Verwahrer von Krypto-Vermögenswerten, sodass Anleger zu Recht befürchteten, dass ihre Assets bei FTX und anderen zentralisierten Börsen bald verdunsten könnten. Dies löste eine Welle von Ausverkäufen aus, die dazu führte, dass sogar Bitcoin um mehr als 20% fiel. Geld wurde überall aus Kryptos abgezogen.
Vor diesem Ducheinander war nicht viel über FTT bekannt. Obwohl der Token für Alameda systemrelevant war, war er gemessen an der Marktkapitalisierung ziemlich klein und wurde kaum gehandelt. Als FTX noch am Anfang stand, verteilte die Börse FTT-Token an Early Adopters als "Belohnung" für die Nutzung der Börse. Als FTX dann wuchs, diente der Token eher wie eine VIP-Mitgliedschaft für FTX-Dienste. Im Gegenzug verwendete FTX einen Teil seiner Handelseinnahmen, um das verfügbare Angebot an FTT-Token durch ein Token-Rückkaufprogramm - ähnlich einem Aktienrückkauf - systematisch zu reduzieren.
Als größter Eigentümer von FTT profitierte Alameda stark vom Erfolg von FTX, obwohl die beiden eigentlich getrennt sein sollten. Genau genommen hing Alamedas Zahlungsfähigkeit davon ab. In einem verblüffenden Verstoß gegen jede Risikomanagementpraktiken lieh FTX Alameda mehr als 10 Milliarden US-Dollar. Zumindest einen Teil dieses Geldes hat FTX wohl ohne Wissen oder Zustimmung der Kunden aus deren Einlagen verliehen. Im Gegenzug gab Alameda FTX seine FTT-Token – praktisch Anteile an den eigenen Aktien von FTX – als Sicherheit. So hingen beide Firmen stark am Erfolg von FTX.
Es dauerte nicht lange, bis die Anleger das Vertrauen in das gesamte Bankman-Fried-Universum verloren, und die Fassade bröckelte schnell. Der Ausverkauf von FTT ließ das Vertrauen der Anleger in die FTX-Börse schwinden und löste eine Auszahlungswelle aus.
Laut internen Mitteilungen von Bankman-Fried hat FTX in den 72 Stunden vor der Ankündigung am 8. November Abflüsse in Höhe von 6 Milliarden US-Dollar erlitten. Diese beiden Umstände – der große Ausverkauf von FTT und der Run auf die Börse von FTX – haben FTXs Finanzlage genug geschadet, um Binance dazu zu bringen, die Firma zuerst zu hofieren und dann den Deal zu annullieren.
Man sollte im Hinterkopf behalten, dass dies eine sich entwickelnde Geschichte ist. Wir glauben, dass das Risiko einer Ansteckung im Krypto-Ökosystem noch nie so hoch war wie jetzt.
Im Gegensatz zu früheren Wolken am Kryptohimmel sind die Verursacher hier Blue-Chip-Namen in der Kryptowelt. Laut CoinGecko war FTX die fünftgrößte Kryptowährungsbörse, bevor das Vertrauen – praktisch über Nacht - zusammenbrach. Alameda war eine Counterparty von FTX und vielen anderen Akteuren im Krypto-Ökosystem. Es war auch ein wichtiger Inhaber anderer Token, die von Bankman-Fried populär gemacht wurden, insbesondere Solana, das einst die fünftgrößte Kryptowährung nach Marktkapitalisierung war. Solana ist allein seit dem 3. November um mehr als 50% gefallen.
Wegen FTXs zentraler und wichtiger Rolle im Zentrum des Krypto-Ökosystems gibt die Finanzlage Anlass zu ernster Besorgnis. Aus diesem Grund hat Morningstar Anlegern oft geraten, jeden Kauf digitaler Vermögenswerte als versunkene Kosten zu betrachten. Wir beoachten die Lage weiter.
Update: Diese Analyse ist ursprünglich am 10. November auf Morningstar.com erschienen. Inzwischen hat FTX Insolvenz beantragt. Zudem ist Firmengründer Bankman-Fried von seinem Posten als Vorstandschef zurückgetreten, teilte FTX am Freitag mit.