Der Fall Wirecard hat den Finanzplatz Deutschland in hellen Aufruhr versetzt. Ein DAX-Unternehmen hat allem Anschein nach in großem Umfang seine Bilanzen frisiert, Vorstände und andere Manager wurden inzwischen verhaftet oder sind auf der Flucht, und die Finanzaufsicht BaFin gerät ins Kreuzfeuer, weil sie jahrelang Hinweise über Unregelmäßigkeiten beim Zahlungsabwickler ignoriert hat. Auch die Wirtschaftsprüfer, die jahrelang die Wirecard-Bilanz testiert haben, sehen sich heftiger Kritik ausgesetzt.
Doch der Wirecard-Skandal besitzt eine weitere Dimension, die bisher wenig Beachtung fand. Sie betrifft zunächst nur Verhalten eines DWS-Fonds, der faktisch deutlich über zehn Prozent seines Vermögens in die Wirecard-Aktie investierte. Das verletzt nach gängiger Interpretation der Rechtslage die Anlagegrenzen von Fonds.
Ein Ausnahmefall? Möglich, doch die Rechtfertigungsargumente der Fondsgesellschaft DWS und deren Billigung durch die deutsche Aufsichtsbehörde BaFin werfen die Frage auf, ob sich Investoren noch auf die Gesetze verlassen können, die zu ihrem Schutz formuliert wurden. Schlimmer noch: Die Integrität des Fondsstandort Deutschland ist tangiert. Es geht also nur vordergründig um einen – zugegebenermaßen spektakulären – Einzelfall.
Fondsinvestments: Eigentlich kein Spiel ohne Grenzen
Doch der Reihe nach. Am Anfang der Geschichte stehen die gesetzlichen Grenzen, innerhalb derer Fonds das Vermögen ihrer Anleger streuen müssen. Das deutsche Fondsgesetz - korrekte Bezeichnung: Kapitalanlagegesetzbuch, KAGB – regelt die Anlagegrenzen von Fonds, damit diese hinreichend diversifiziert sind. Es leitet sich aus den Fondsregularien der Europäischen Union ab. Gemäß § 206 des KAGB darf ein Fonds bis zu fünf Prozent seines Vermögens in Wertpapiere desselben Emittenten investieren; maximal liegt die Grenze bei zehn Prozent, aber nur, wenn der Gesamtwert der Wertpapiere dieser Emittenten 40 Prozent des Fondsvermögens nicht übersteigt. Im Fonds-Jargon heißt diese Vorgabe nur die „5/10/40-Regel“, die aktiv verwaltete Fonds einhalten müssen.
So weit, so klar. Nun kommt der Fall Wirecard ins Spiel. Der DWS Deutschland, ist der drittgrößte Fonds für deutsche Aktien in Europa mit einem Vermögen von über vier Milliarden Euro; vorwiegend stammt das Geld von Privatanlegern. Fondsmanager Tim Albrecht hatte das gesetzliche Einzeltitel-Limit ausgereizt – zwischen Oktober 2019 und April 2020 lag die Wirecard-Gewichtung im Fonds knapp unter zehn Prozent. Im Januar übersprang die Wirecard-Gewichtung aufgrund der damals guten Performance der Aktie die Zehn-Prozent-Marke, woraufhin die Fondstochter der Deutschen Bank einen Teil der Position (rund 2,5 Prozent) in ein sogenanntes Tracker Zertifikat umtauschte. Aufgelegt wurde dieses Zertifikat, das den Kurs der Wirecard-Aktie 1:1 abbildet, durch die Schweizer Bank UBS. Über Wirecard-Aktien und das Wirecard-Zertifikat blieb der Fonds dann über mehrere Wochen mit mehr als zwölf Prozent des Fondsvermögens beim Zahlungsdienstleister engagiert.
Das ganze Ausmaß des Wirecard-Exposures wurde erstmals aus dem Halbjahresbericht des DWS Deutschland ersichtlich, der Ende Mai veröffentlicht wurde. Anleger konnten diese Information nicht den zeitnah im monatlichen Turnus veröffentlichten Fonds-Factsheets der DWS entnehmen, da das Zertifikat zwar als solches aufgelistet, aber die Verknüpfung mit der Wirecard-Aktie nicht ersichtlich war.
Investoren hatten also keine Chance, sich über das erhöhte Wirecard-Exposure im DWS Deutschland zeitnah zu informieren – und gegebenenfalls darauf zu reagieren. Erstmals hatte der gut informierte Branchendienst Finanz-Szene.de das Geschehen vor wenigen Wochen, Ende Juni 2020, dokumentiert; Finanz-Szene.de hatte bereits seit Herbst 2019 die Investments der DWS in die Wirecard-Aktie akribisch nachverfolgt.
DWS führt das Emittentenrisiko der UBS beim Wirecard-Zertifikat ins Feld
Die DWS hat zwei Argumente zur Erklärung der Überschreitung des Zehnprozent-Limits ins Feld geführt. Zum einen machte die Fondsgesellschaft geltend, man habe mit der Wirecard-Aktienposition plus der Wirecard-Zertifikate-Position keinen Verstoß gegen Anlagegrenzen begangen, da das Zertifikat nur mit seinem Emittenten-Risiko, nicht aber mit dem Risiko des Underlyings in die Betrachtung einging. Schließlich habe die UBS und nicht Wirecard das Zertifikat emittiert. Zum anderen führte sie an, dass die Konstruktion des Tracker-Zertifikats gewählt worden sei, um die Wirecard-Position „marktschonend“ abzubauen; man habe dadurch Zeit gewonnen, um das Limit überschreitende Wirecard-Exposure zu reduzieren; man habe damit nicht gegen die gesetzlichen Vorgaben verstoßen.
Diese Erklärung bringt uns schnurstracks zur Graurheindorfer Straße in Bonn, wo die deutsche Finanzaufsicht BaFin residiert. Eine Anfrage zur diesbezüglichen Einschätzung ergibt folgendes Bild: Laut BaFin stehe dem Erwerb von 1:1-Zertfikaten durch einen Fonds nichts entgegen, auch wenn deren Basiswert bereits in Höhe von 10 Prozent im Fonds enthalten sei, sofern sich der Emittent der Aktie vom Emittenten des Zertifikats unterscheide. Damit hat also die BaFin die Argumention der DWS bekräftigt.
Gleichwohl erstaunt diese Interpretation der Gesetzeslage. Man muss wissen, dass das KAGB, also das Fondsgesetz, allgemeine Grundsätze enthält, die durch Verordnungen im Einzelnen weiter ausgeführt werden. Dazu zählt auch die Derivateverordnung, die solche Fälle regelt. Im Paragraf 23 Grundsatz der Derivateverordnung findet sich folgende Regelung: „Bei der Berechnung der Auslastung der Anlagegrenzen nach den §§ 206 und 207 des Kapitalanlagegesetzbuches (Ausstellergrenzen) sind Derivate sowie derivative Komponenten, die von Wertpapieren, Geldmarktinstrumenten oder Investmentanteilen gemäß § 196 des Kapitalanlagegesetzbuches abgeleitet sind, einzubeziehen“.
Die Verwaltungspraxis der BaFin lautet: Zertifikate sind keine Derivate
Auch für Nicht-Juristen klingt dies eindeutig: Ein Fonds darf eben nicht die Zehn-Prozent-Grenze dadurch aushebeln, indem er zusätzlich zum Wertpapier ein aus dem Wertpapier abgeleitetes Exposure mittels Zertifikate eingeht. Ist etwa die BaFin nicht mit der Materie vertraut? Sind den Heerscharen von Juristen dort die Bestimmungen der Derivateverordnung nicht bekannt?
Natürlich ist diese rhetorische Frage zu verneinen: Bei der deutschen Finanzaufsicht kennt man sich bestens mit der Materie aus; allerdings hat sich die BaFin für eine recht eigenwillige Interpretation entschieden. „Nach ständiger Verwaltungspraxis der BaFin sind 1:1-Zertifikate weder Derivate noch Finanzinstrumente mit derivativer Komponente“, lässt uns die Aufsicht wissen. Mit anderen Worten: Der oben ausgeführte Paragraf 23 der Derivateverordnung ist laut BaFin bei 1:1 Zertifikaten nicht anwendbar, weil es sich hier nicht um Derivate handele.
Die BaFin schaut von oben auf Zertifikate drauf, aber eben nicht rein
Auf die Frage, als was denn 1:1 Zertifikate zu werten sind, konzediert die Aufsicht, dass diese als Wertpapiere anzusehen seien. Allerdings, so die BaFin weiter, „(erfolgt) eine Durchschau auf den Basiswert des Zertifikates für die Frage der Erwerbbarkeit nicht“. Mit anderen Worten: Man schaut bei der BaFin auf den Emittenten eines Zertifikates, nicht aber auf das dahinterstehende Wertpapier, dessen Performance das Zertifikat abbildet. Man spricht in der Branche vom Prinzip der „Draufschau“ im Gegensatz zu einer „Durchschau“. Mithin ist für die BaFin also die Frage nach der Einhaltung der Emittentengrenzen nach dem Fondsgesetz hier nicht relevant.
(Diese Interpretation sorgt übrigens bei den Struckis in der Zertifikatebranche für amüsiertes Schmunzeln und in der Fondsbranche für routiniertes Schulterzucken, was dagegenspricht, dass es sich hier um einen Einzelfall handelt, aber das gehört an anderer Stelle ausgeführt.)
Das wirft unweigerlich die Frage danach auf, was die im KAGB formulierten Anlagegrenzen für Fonds in der Verwaltungspraxis der BaFin wert sind. Die ernüchternde Erkenntnis: offenbar nicht viel. Das hat die BaFin bereits 2013 recht klar formuliert. In einem Fragenkatalog der BaFin zu den erwerbbaren Vermögensgegenständen (Eligible Assets) werden 1:1-Zertifikate explizit angesprochen. Wörtlich heißt es in Frage 23: „Wird die Ausstellergrenze des § 206 Absatz 1 KAGB eingehalten, wenn 1:1-Zertifikate erworben werden, die von 16 unterschiedlichen Emittenten stammen, aber alle das gleiche Referenz-Asset (z.B. die gleiche Aktie) halten?“. Die Antwort der BaFin, man erahnt es bereits: „Selbst in einem wie in der Fragestellung geschilderten Extremfall liegt keine Verletzung der in § 206 Abs. 1 KAGB genannten Emittentengrenzen vor“.
Ergeben 16 Wirecard-Zertifikate ein diversifiziertes Portfolio?
Man muss sich die Tragweite dieser Antwort vergegenwärtigen: Das DWS Fondsmanagement hätte den DWS Deutschland nach dieser Lesart zusätzlich zu der zehnprozentigen Wirecard-Aktienposition und dem UBS-Wirecard-Tracker-Zertifikat mit 15 weiteren Wirecard-Zertifikaten bestücken können, ohne dass man in der Graurheindorfer Straße mit den Wimpern gezuckt hätte.
Dieses höchst aufschlussreiche Statement führt umstandslos zur nächsten Frage: Was ist nach Lesart der BaFin das minimale Diversifikationserfordernis für Fonds? Die alte 5/10/40-Regel kann es ja, nach allem, was wir bisher erfahren konnten, nicht sein.
Auch hierzu hat die BaFin eine detaillierte Vorstellung, die sich recht eigenwillig für Freunde diversifizierter Fonds anmutet. Die Einhaltung des Grundsatzes der Risikomischung ist laut BaFin dann gewährleistet, wenn ein Fonds aus mehr als drei Vermögensgegenständen mit unterschiedlichen Anlagerisiken bestehe. Die BaFin ließ weiter wissen, dass die „in § 206 Abs. 1 KAGB normierten starren Anlagegrenzen (5 bzw. 10 Prozent des Wertes des inländischen OGAW) nicht deckungsgleich mit den Vorgaben seien, die sich nach unserer Verwaltungspraxis aus dem Grundsatz der Risikomischung ergeben.“
Auf unsere Anfrage hin hat die BaFin nur folgendes Szenario explizit ausgeschlossen: Der allgemeine Grundsatz der Risikomischung werde dann verletzt, wenn „ein Fonds wirtschaftlich nur aus einem einzigen Vermögensgegenstand besteht, unabhängig davon, ob dieser über ein direktes Investment oder über 1:1-Zertifikate abgebildet wird.“
Risikomanagement unter dem Brennglas
Unabhängig von der eigenwilligen Aufsichtspraxis der BaFin, die sich anscheinend durch eine jahrelange „ständige Verwaltungspraxis“ zu einer Art Sonderregime für Fonds entwickelt hat, sehen wir die Umgehung der Anlagegrenzen mittels Derivate durchaus kritisch. Im Fall des DWS Deutschland führte der Zertifikateeinsatz zu einer Verstärkung der Abhängigkeit der Fonds-Performance und des Fonds-Risikos von einer einzelnen Aktie. (Die Wirecard-Aktie war bereits im Herbst 2019 ein hochvolatiler Titel, sodass das Wirecard-Risiko im DWS Deutschland auch noch vor den Entwicklungen im Frühjahr 2020, die in der Insolvenz von Wirecard einmündeten, weit über das hinausgeht, was man von einer zehn- oder zwölfprozentigen Fonds-Gewichtung auf den ersten Blick vermuten würde.)
Dieser Wirecard-Trade (Aktie plus Zertifikat) ist unseres Erachtens Ausdruck von Schwachstellen im Risikomanagement bei der DWS. Das haben wir mit einer Herabstufung des Morningstar Analyst Ratings des Fonds und seines Klons DWS Invest German Equities quittiert. Die Ratings der Retail-Tranchen der Fonds lauten nunmehr auf „Neutral“, günstigere Anteilsklassen wurden auf ‚Bronze‘ heruntergestuft (Details zum jüngsten Downgrade des DWS Deutschland finden Sie hier; Registrierung erforderlich).
Die deutsche Aufsicht mag ein recht entspanntes Verhältnis zu Konzentrationsrisiken in Fonds haben. Wir plädieren indes für eine enge Auslegung der regulatorischen Vorgaben. Nicht ohne Grund ziehen Fonds ihre Daseinsberechtigung wesentlich aus dem Argument ‚Risikostreuung‘. Diese sollte nicht aufs Spiel gesetzt werden. Vor allem im Interesse der Anleger, aber auch, um die Integrität des Fondsstandorts Deutschland zu erhalten.