Ich muss gestehen, dass ich seit meiner Kindheit ein gespaltenes Verhältnis zu Boulevardmedien habe; „Bild“ hätte mir um ein Haar den Sommerurlaub meines Lebens versaut. Es war im Jahr 1979. Die US-Raumstation Skylab geriet außer Kontrolle und drohte unkontrolliert auf die Erde zu stürzen. Die NASA versuchte zwar, Skylab über auf das offene Meer abstürzen zu lassen, aber es war nicht sicher, ob das gelingen würde. Prompt war auf Seite 1 der Zeitung mit den großen Buchstaben zu lesen, dass Skylab über Deutschland abzustürzen drohe, ich meine sogar, dass die Region Frankfurt benannt wurde. Da ich zu der Zeit in Frankfurt sein wollte, waren meine Eltern drauf und dran, meine Reise zu stornieren. „Was passiert, Junge, wenn dir Skylab auf den Kopf stürzt?“, waren die bangen Worte meiner Mutter. Ich konnte mich – Gott sei Dank – durchsetzen, und ich erlebte den Sommer meines Lebens. (Skylab stürzte im Juli 1979 über irgend einen Ozean ab, und ich weiß nicht, ob „Bild“ darüber berichtete.)
Schnitt. Gut 40 Jahre später fand ich mich Ende vergangener Woche gefühlt im Frühsommer 1979 wieder. Das Coronavirus, längst in China und Asien manifest, breitete sich rasant in Europa aus. Ab Montag vergangener Woche erreichte das Bewusstsein der Risiken einer Pandemie Kapitalmarktanleger in Europa und den USA. Die Börsen reagierten so, wie es bei Krisen häufig der Fall ist: mit hohen Kursverlusten. Am Ende der Woche stand bei den meisten Aktien-Indizes unter dem Strich ein niedriges zweistelliges Minus. Das war bemerkenswert.
Wenn schwarze Schwäne zum Massenphänomen werden
Es kam, wie es kommen musste. Etliche Medien berichteten vom „Schwarzen Freitag“, von „Schwarzen Schwänen“ und von „abstürzenden Börsen“. Erst recht ging es in den sozialen Medien hoch her, die inzwischen für viele die erste Informationsquelle sind. Eine Google-Stichwortsuche „Corona Crash“ förderte in 0,41 Sekunden fast 47 Millionen Ergebnisse zutage.
Alarmismus in den Medien ist ein Problem für Anleger. Oft merken sie nicht, dass sie durch eine gezielte Wortwahl und Bildersprache, man nennt es auch Framing, in ihrer Wahrnehmung beeinflusst werden. Das galt auch für die bisherige Coronavirus-Berichterstattung. Es wurde ein klarer Krisen-Rahmen für die Ereignisse gesetzt. Das passierte auf wenig subtile Weise. Alles, was nach dem Stichwort „Crash“ gelesen wird, wird unter den Vorzeichen gelesen: Drama, Terror, Krise. Wer von „abstürzenden“ Börsen fabuliert oder anders dramatisiert, legt es darauf an, Panik zu verbreiten.
Und natürlich wissen wir alle, dass Panik ein sehr schlechter Ratgeber ist.
Wer sich von Weltuntergangsmeldungen anstecken ließ und am Freitag vergangener Woche Aktien verkaufte, realisierte Buchverluste und verpasste das Plus von vier bis fünf Prozent (USA) und die zaghaftere Erholung in Europa bis Dienstag. Gerade nach hohen Kursverlusten schnellen die Märkte in der Folgezeit nach oben (ob nachhaltig oder nicht, sei hier dahingestellt). Wer in Panik verkauft, hat die Verluste realisiert und verpasst die Erholung danach.
Gerade nach hohen Kursverlusten schnellen die Märkte wieder nach oben. Wer in Panik verkauft, hat Verluste realisiert, verpasst jedoch die oft nachfolgende Erholung
Natürlich haben nicht alle Medien und Blogs unreflektiert Panik geschürt. Einige haben besonnen agiert und sogar hervorgehoben, dass Anleger bei Verlusten auch antizyklisch Positionen aufbauen können. (Hier seien lobend die FAZ und die Financial Times erwähnt.).
Das bringt uns unumwunden zur Frage: Cui Bono, wem nutzt es? Die Frage ist schnell beantwortet. Die meisten Medien sind Gewinn-orientierte Unternehmen, die von der verkauften Auflage (Print) bzw. von Clicks (Online) leben. Da eine zugespitzte Nachricht mehr Kaufinteresse weckt als eine vermeintlich langweilige Verlaufsmeldung, werden sich viele Medien für die dramatischere Darstellung der Ereignisse entscheiden. Das widerspricht zwar dem Geist und oft auch dem Wort des Pressekodex, ist aber dennoch gang und gäbe. (Dass es sich bei vielen Medien offenbar noch nicht herumgesprochen hat, dass man mit der bloßen Wahl der verwendeten Wörter oder Bilder einen Kontext schafft und Deutungen implizit vornimmt, macht die Sache nicht besser.).
Die alarmistische Berichterstattung in einigen Medien zum Coronavirus war auch aus einem anderen Grund ärgerlich. Sie spielte den so genannten Crash-Gurus in die Hände, weil sich die Medien deren Wortwahl zu eigen machten. Dadurch dürften sie den schamlosen Marktschreiern, die mit Krisengerede und Chaos-Prophezeiungen ihre Bücher, ihre Fonds oder Gold verkaufen wollen, einen guten Dienst erwiesen haben. „Wenn schon die Zeitungen die Kursverluste als Crash bezeichnen, dann ist ja vielleicht doch etwas dran an der Crash-Prognose von XY?“, werden sich so manche Medien-Konsumenten gefragt haben. (Ich nenne hier bewusst keine Namen.)
Auch Berater und Fondsanbieter haben ihre eigene Agenda
Anleger haben es also nicht leicht. Sie müssen aus dem Wust an Schlagzeilen das Seriöse vom Unseriösen unterscheiden und die Fakten aus dem Crash-Frame lösen. Leider hilft die Unterscheidung zwischen „Qualitätsmedien“ und „Boulevard“ nur bedingt weiter. Anleger müssen lernen, ihre Investment-These unbeirrt unter unguten Rahmenbedingungen faktenbasiert zu überprüfen und sich nicht von der Tageshektik der Märkte beinflussen zu lassen. Gute Selbstentscheider können nüchtern abwägen und die für sie richtigen Entscheidungen treffen. Wer sich das nicht zutraut, sollte sich unbedingt an einen Berater seines Vertrauens wenden.
Doch es wird ab hier noch komplizierter. Denn auch der Berater hat seine eigene Deutung der Dinge - wie auch die Investmentgesellschaften, die die Fonds und ETFs auflegen. Anleger laufen also Gefahr, dass sie im Frame der Berater, Vertriebe und Fondsgesellschaften gefangen werden.
Es ist keine Lösung, den Medien zu misstrauen und kritiklos den Frame der anderen Seite, der Investment-Industrie und der Vertriebsorganisationen, zu adoptieren und deren Marktkommentare und Ratschläge als objektiv zu akzeptieren. Vertriebe sind überwiegend provisionsgetrieben. Sie wollen verkaufen, zumindest jedoch sicherstellen, dass die Anleger investiert bleiben. Sie arbeiten auf eigene Rechnung, und die geht auf, wenn der Anleger bei der Stange bleibt.
Natürlich raten auch Fondsanbieter fast immer zum Kauf ihrer Fonds und ETFs. Denn natürlich sind auch sie Gewinn-orientierte Unternehmen. Ich kenne kaum Beispiele von Fondshäusern, die explizit von einem Investment in ihre Fonds abgeraten hätten, als die Märkte Schlimmes in petto hatten. (Vincent Strauss, einer der Gründer des französischen Fonds-Hauses Comgest, der sich vor einigen Jahren in den Ruhestand verabschiedet hat, galt als einer dieser seltenen Spezies.)
Auch Banken und Broker verfolgen ureigene Interessen. Sie wollen zu Transaktionen animieren, seien es Käufe oder Verkäufe. Insofern sollten Anleger auch den Rat dieser Akteure nicht als objektiv ansehen. Auch hier handelt es sich um Gewinn-orientierte Unternehmen, die Einnahmen aus Transaktionen (und Bestandsvermögen) generieren.
(Und natürlich ist auch Morningstar ein Gewinn-orientiertes Unternehmen, das Research und Daten verkaufen will. Auch wenn ich hier längst nicht mehr objektiv bin, stehe ich dennoch zur These, dass das Geld, das Anleger für qualifiziertes Research ausgeben, gut investiert ist.)
Fazit: Achte auf den Frame
Die meisten Untersuchungen über Anlegerpsychologie verweisen auf typische Anlegerfehler. Das ist gut und richtig, aber die Anlegerpsychologie lässt sich durchaus weiter fassen. Die Beschäftigung mit dem Verhalten von Medien in der vergangenen Woche hat uns gelehrt, uns kritisch mit dem Rahmen, dem Frame, den die Medien in ihrer Berichterstattung schaffen, auseinanderzusetzen. Auch wenn einige Medien professionell agiert haben, ist leider zu konstatieren, dass der dramatische Frame prägend für die Deutung der Börsen-Ereignisse in der letzten Woche war.
Wörter wie „Korrektur“, „Kursverluste“ zu verwenden, war OK, weil es sich um Fakten handelte. Unkommentierte Parallelen zu 2008 oder 1929 zu ziehen oder Wörter wie „Crash“ oder „Absturz“ zu verwenden, war dagegen definitiv nicht OK. Hier war Panikmache im Spiel.
Der Frame erstreckt sich auch auf Bilder uns Illustrationen. Die Entscheider in den Medien müssen kritisch reflektieren, inwiefern die Bildelemente, die sie zur Untermalung ihrer Texte verwenden, nicht auch schon ein unzulässiges Framing darstellen. Was will uns der mimisch begabte Kursmakler vor blinkend roten Kurstafeln suggerieren? Muss man den unbedingt in das Rampenlicht rücken?
Die Märkte haben ihre eigenen Gesetze, die sich nur begrenzt durch das Starren auf Tageskurse erfassen lassen. Die erfolgreichsten Investoren agieren langfristg. Vermutlich ist es für ängstliche Gemüter am besten, sich in unruhigen Börsenzeiten von den Tagesmedien und dem Internet fernzuhalten und allenfalls einmal wöchentlich den guten alten Teletext zu bemühen. Nüchterner und Fakten-orientierter geht es kaum.
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