Anleger in Europa haben gelernt, mit Damoklesschwertern zu leben. Die Eurozone ist seit Jahren fragil, das Wachstum in Europa ist anämisch, Populisten allerorts stellen die freiheitlich-demokratische Ordnung in Frage, und seitdem der Protektionismus im höchsten Amt der US-Regierung eine Heimat gefunden hat, drohen neue Zollregime den Welthandel abzuwürgen. Da gerät der bevorstehende Brexit fast schon aus dem Fokus. Bis auf die fast schon obligatorische Erwähnung eines immer noch möglichen ungeregelten „Crash“-Brexit wird wenig über Optionen, die Anlegern mit Blick auf den Austritt Grossbritanniens aus der EU im März 2019 offenstehen, gesprochen. Das ist nicht sachgerecht!
Die typische Begründung dafür, dass das mögliche „Event“ des Jahrhunderts zum Non-Event in der Debatte mutiert ist, lautet so: Anleger könnten sich gegen Grossrisiken wie den Brexit kaum wappnen, weil die Folgen unabsehbar seien. Eine andere Variation: Gegen politische Krisen brauche man sich nicht zu schützen, weil sie für die Märkte langfristig irrelevant seien. Das mag für politische Wahlen in wenig polarisierten Gesellschaften gelten, aber eine pauschale Negierung der Relevanz von Politik erscheint vermessen – vielleicht wurden politische Konflikte und Krisen der letzten Jahre ja nur von noch wichtigeren Faktoren, etwa der expansiven Linie der Notenbanken weltweit, nur überlagert?
Das wirft die Frage auf, ob sich Anleger wirklich mit dem unvermeidbar erscheinenden Brexit-Risiko abgefunden haben. Gilt wirklich nur das Motto „Abwarten und Tee trinken“? Weil uns das zu grobschlächtig erscheint, haben wir vier mögliche Anlegertypen identifiziert und wollen über ihre Handlungsoptionen sprechen und auch punktuell nachsehen, ob mögliche Aktionen von den Fondsdaten widergespiegelt werden. Im Fokus stehen die Typen: Der Aktivist, der Fatalist, der Realist und der Ignorante.
Der Aktivist: Benchmark-frei und Spass dabei
Wer der Meinung ist, dass man sich unbedingt gegen den bevorstehenden Austritt Grossbritanniens schützen muss, der kann natürlich handeln: Fonds, die Wertpapiere aus UK enthalten, könnten radikal aus den Portfolios entfernt werden. Das ist eine schwerwiegende Entscheidung, da britische Aktien – je nach Marktphase – zwischen 25 und 35 Prozent der grossen paneuropäischen Aktienindizes ausmachen. Im MSCI World schwankte der Anteil in den vergangenen Jahren zwischen sechs und acht Prozent. Wer also auf britische Aktien(-Fonds) komplett verzichtet, hat eine fast schon radikale Entscheidung getroffen.
Es stellt sich die Frage, ob Anleger tatsächlich mehrheitlich radikal gehandelt haben und ob sich der Gedanke der Benchmark-Freiheit auch in den Absatzzahlen für Fonds manifestiert.
Allem Anschein nach ist das nicht der Fall. Von den 24 Morningstar Kategorien, die sich auf britische Wertpapiere konzentrieren, wurde per Saldo seit dem Brexit-Votum der Briten im Juni 2016 europaweit nicht nur kein Geld abgezogen. Im Gegenteil: In den vergangenen drei Jahren verbuchten Aktien-, Obligationen- und Mischfonds mit UK-Fokus Nettozuflüsse von knapp 50 Milliarden Euro. In den vergangenen 24 Monaten lagen die Nettozuflüsse bei gut 51 Milliarden Euro, und im laufenden Jahr legten Investoren in britischen Vehikeln gut elf Milliarden Euro netto an. Brexit-Panik sieht anders aus.
Natürlich gilt der Einwand, dass diese Zahlen vor allem das Verhalten von britischen Investoren widerspiegeln. Tatsächlich dürften zwischen 80 und 90 Prozent der Fondsgelder, die in UK-Fondskategorien investiert sind, von Anlegern von der Insel stammen. Und die haben nicht nur die Füsse stillgehalten, sondern kräftig investiert. (Prominente Ausnahme sind britischen Dividendenfonds, die in den vergangenen drei Jahren Abflüsse von 15 Milliarden Euro hinnehmen mussten. Aber diese Abflüsse gehen vor allem auf die enttäuschende Leistung etlicher Dickschiffe aus den Häusern Woodford und Invesco Perpetual zurück und dürften nur eingeschränkt Brexit-bedingt gewesen sein.)
Doch auch wenn man die Fondsdomizile und die Vertriebsregionen zum Massstab nimmt, ändert sich nichts an der grundlegenden Feststellung, dass die Mittelflüsse europaweit nicht auf eine Anlegerflucht aus Grossbritannien-Vehikel hindeuten. Die Aktivisten waren also, gemessen an den Nettomittelzuflüssen, allenfalls eine Minderheit.
Es stellt sich dann noch die Frage, wie es spiegelbildlich aussieht. Haben Anleger verstärkt in die Kategorien investiert, die britische Investments ausschliessen? Hier sieht das Bild etwas anders aus. Das betrifft die beiden Kategorien „Aktien Europa Standardwerte ex UK“ und „Aktien Europa Nebenwerte ex UK“. Bei Nebenwerten zeichnet sich ab, dass Anleger aus Europa in den Quartalen nach dem Brexit-Votum viel stärker als zuvor auf diese Vehikel gesetzt haben. (Unterdessen zeigten sich Anleger aus Grossbritannien bei diesen Vehikeln deutlich zurückhaltender. Sie stiegen sogar mehrheitlich aus diesen Fonds aus, was auf ihre generelle Risikoaversion zu der Zeit schliessen lässt.)
Indes verzeichneten Fonds der Kategorie „Europa Standardwerte ex UK“ in den Monaten nach dem Brexit Mittelabflüsse, und das gilt gleichermassen für die auf dem Kontinent domizilierten Fonds wie auch solche, die für britische Investoren aufgelegt wurden. Hier lässt sich also kein Zuspruch für Vehikel ableiten, die auf britische Aktien komplett verzichten.
Summa summarum hielten sich die aktivistischen Anleger also zurück. Offenbar geht es doch nicht ohne britische Aktien!
Der Fatalist: Mit dem Index und gegen die Wand
Wenn sich Anleger in ihrem Investmentverhalten nicht von Brexit-Überlegungen leiten lassen, dann dürfte vom Ergebnis gesehen Fatalismus im Spiel sein. Grossbritannien wäre nach dieser Deutung schlicht zu gross, um komplett aus den Portfolios von kontinentaleuropäischen Investoren verbannt zu werden.
Halten wir fest, dass britische Aktien in den meisten paneuropäischen Aktienindizes traditionell ein Gewicht von 30 bis 40 Prozent ausmachen. Auch wenn aufgrund der Underperformance britischer Aktien und der schwachen Entwicklung des Pfund in den vergangenen Jahren diese Quote um einige Prozentpunkte kleiner geworden ist, bleibt Grossbritannien mit Abstand das bedeutsamste Land in Indizes wie dem MSCI Europe. Per Ende November machten britische Aktien einen Anteil von gut 26 Prozent aus. Im MSCI Europe Value sind es sogar gut 33,5 Prozent.
Auch bei Nebenwerten machen britische Aktien bis zu knapp einem Drittel des Indexgewichts aus, etwa im MSCI Europe Small Cap. Weit hinter britischen Aktien folgen im MSCI Europe Aktien aus Frankreich (16,3 Prozent), der Schweiz (14,5 Prozent) und Deutschland (14,1 Prozent).
Investoren, deren Portfolios 1:1 die Indexabbildung nachvollziehen, sind im Ergebnis gewissermassen fatalistisch. Sie gehen davon aus, dass der Markt immer Recht hat. Wird er auch haben, allerdings liegt es im Auge des Betrachters, welcher „Markt“ für ihn relevant ist. So kann bei einem Chaos-Brexit der Schaden in Indexportfolios besonders gross sein. Übrigens stecken inzwischen 34 Prozent aller Fonds-Gelder der Kategorie „Aktien Europa Standardwerte Blend“ in Indexfonds, Tendenz: steigend. Bei einem Chaos-Brexit dürften also viele Anleger in passiven Europa-Fonds stark betroffen sein. Insofern halten es solche Investoren mit dem kölschenen Motto: „Et kütt, wie et kütt“ – ob es wirklich „noh immer jut jejange ist“, sei an dieser Stelle indes dahingestellt.
Der Realist: Diversifiziert bleiben ist das Motto jeder Stunde!
Anleger in aktiv verwalteten Fonds legen mit ihrer Entscheidung, die Länder-Allokation dem Fondsmanager ihres Vertrauens zu überlassen, faktisch eine pragmatische Haltung an den Tag mit Blick auf das Thema Brexit. Man muss wissen, dass Fondsmanager typischerweise Grossbritannien in ihren Portfolios signifikant untergewichten gegenüber den oben thematisierten Indizes. In der Kategorie „Aktien Europa Dividenden“ sind aktiv verwaltete Fonds mit Blick auf UK um gut 12,5 Prozentpunkte gegenüber dem MSCI Europe High Dividend Yield untergewichtet. Bei Europa Mid Caps-Fonds sind es 8,5 Punkte, bei Small Cap Fonds gut sieben Punkte wie auch in der Kategorie „Europa Standardwerte Blend“.
Aber dennoch muss an dieser Stelle festgestellt werden, dass, ungeachtet der deutlichen Untergewichtung britischer Aktien in aktiv verwalteten Fonds, typischerweise noch immer knapp ein Fünftel der Fondsgelder in den grossen europäischen Aktien-Kategorien in britischen Aktien stecken. Insofern nehmen Anleger, die in aktiv verwaltete Europa-Fonds investieren, die Haltung des Benchmark-bewussten Investors ein. Sie bleiben diversifiziert und gehen nicht radikal vor, und werden möglicherweise von der Hoffnung geleitet, dass es nicht so schlimm kommen wird, auch wenn es schlimm kommen wird. Bleibt zu hoffen, dass solchen Investoren nicht im Nachhinein schwant, dass die diversifizierte Lösung für sie problematisch, weil nicht radikal genug war.
Der Ignorant: Die Briten sind überall, und ich weiss von nichts!
Eine kleine Quizfrage an dieser Stelle: Was haben Sektorfonds für Rohstoff-Aktien, Telecom-, Energie- und europäische Immobilien-Aktienfonds gemeinsam? Sie ahnen es bereits: Sie investieren in grossem Stil in britische Aktien, und zwar in Höhe von zwischen 15 und 20 Prozent!
Und es geht noch weiter: Fonds für niederländische Aktien weisen einen hohen einstelligen Anteil von Aktien aus UK auf, vor allem wegen des Konsumgüterherstellers Unilever, dessen Zentrale auch in London beheimatet und der an der LSE notiert ist. Auch Hongkong-Aktienfonds weisen aufgrund der Bank HSBC einen Anteil von knapp acht Prozent Grossbritannien auf, und Südafrika-Fonds werden gleich von mehreren britischen Schwergewichten geprägt, wie etwa British American Tobacco, Anglo American oder BHP Billiton. (Und weil Südafrika-Aktien einen grossen Anteil an Afrika-Portfolios ausmachen, ist aufgrund von Unternehmenskotierungen in London in diesen Fonds ein UK-Gewicht von rund fünf Prozent enthalten.)
Auch bei globalen Standardwertefonds für Value-Aktien sind UK-Titel mit rund zehn Prozent mit von der Partie, bei globalen Dividendenfonds liegt die UK-Quote sogar bei gut 13 Prozent. Diese inzwischen ermüdende Addition liesse sich noch länger fortführen. Der Punkt, der gemacht werden soll, ist: Vielen Anlegern ist höchstwahrscheinlich nicht bewusst, wie viel Grossbritannien in ihren Portfolios schlummert!
Fazit: Nichtstun kann helfen (muss aber nicht)
Haben Sie sich in den vier Anlegertypen wiedererkannt? Vermutlich ja, ich habe es jedenfalls! Deshalb ist es auch müssig zu spekulieren, welcher dieser Typen im Vorteil sein wird, wenn es wirklich zu einem chaotischen Brexit kommen sollte.
Vielleicht wird der Benchmark-freie Radikale nachhaltige Vorteile haben; vielleicht wird der rheinische Fatalist Recht behalten. Möglicherweise wird der Realist von allen am besten Schlafen.
Natürlich hängt alles auch von der Fristigkeit ab. Vielleicht wäre ein Chaos-Brexit nach zehn, 20 oder sogar 30 Jahren ein nicht mehr wahrnehmbarer Zacken bei der Wertentwicklung der persönlichen Vermögenswerte des Fatalisten? Vielleicht verpasst der Aktivist den rechtzeitigen Wiedereinstieg in den britischen Markt und performt am schwächsten? Vielleicht glättet das mit aktiv verwalteten Fonds bestückte Portfolio des Realisten die Volatilität am besten, was a la longue zur besten Performance führen würde?
Weil wir das alles nicht wissen, würde ich mich auf die Position zurückziehen, dass der Ignorant am stärksten Schock-gefährdet ist, weil er ahnungslos durch die Märkte streift und sich mal hier und mal dort bedient. Hoffen wir, dass er mit seinem gänzlich naiv konstruierten Portfolio die Stürme der Märkte übersteht!
Die beste Medizin gegen Marktgefahren und für eine gute Anlegererfahrung ist meines Erachtens ein solides Wissen. Das fängt damit an, dass man weiss, woran man mit seinem Portfolio ist. Für den ersten Realitäts-Check empfehle ich allen Investoren, ihr Portfolio, das sie natürlich auf unserer Website morningstar.ch repliziert haben, einem UK-Check mithilfe unseres X-Ray-Tools zu unterziehen: Sie könnten überrascht werden! (wiederum: ich war es eben auch!)