Blockchain: Möglichkeiten und Grenzen der dezentralisierten Technologie

Im zweiten Teil unserer dreiteiligen Blockchain-Serie schauen wir uns an, in welchen Wirtschaftssektoren die Technologie angewendet wird. Auch wenn Enthusiasten der Technologie eine revolutionäre Wirkung zuschreiben, dürfte die menschliche Natur der Blockchain Grenzen setzen.

Jim Sinegal 12.07.2018
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Einige Branchen zeigen sich bei der Nutzung der Blockchain-Technologie besonders innovativ und experimentierfreudig. Blockchain wurde für Zahlungsverkehr erfunden, daher finden sich hier besonders frühe Nutzer. Institute wie die Bank of America oder Mastercard haben Dutzende von Patentanmeldungen eingereicht. Auch einige Technologiekonzerne - namentlich IBM, Apple, Intel und Accenture - kommen inzwischen jeweils auf zweistellige Patentanmeldungen. Die Anwendungen beschränken sich jedoch nicht nur auf diese beiden Sektoren. Vielmehr sind auch General Electric, Walmart und andere Unternehmen auf den Zug aufgesprungen und versuchen, urheberrechtlich geschützte Blockchain-Anwendungen zu entwickeln. 

Wie bei jeder neuen Technologie sind Startups jedoch für den Grossteil der Investitionstätigkeiten verantwortlich. Diese Unternehmen haben Milliarden an Dollar mit der Hilfe von Risikokapitalgebern aufgebracht. Namen wie R3, Ripple, Chain, Ledger und Digital Asset sind zwar noch nicht der breiteren Öffentlichkeit bekannt, aber diese kapitalkräftigen Unternehmen arbeiten zunehmend mit sehr bekannten Konzernen zusammen. Dass auch die grössten börsennotierten Unternehmen und Risikokapitalgesellschaften in dem Bereich rege investieren, passt zu unserer Annahme, dass es für die Technologie etliche sofortige Einsatzmöglichkeiten gibt. 

Was es mit R3, Digital Asset und Co. auf sich hat 

Die meisten dieser Aktivitäten haben naturgemäss mit Finanzgeschäften zu tun, doch es werden zunehmend auch andere Anwendungsgebiete erschlossen. So hat R3 ein Open-Source-Produkt für eine dezentralisierte Buchhaltung entwickelt, das eine Vielzahl von Finanzanwendungen ermöglicht. Das Angebot von Digital Asset funktioniert insofern ähnlich, als eine Blockchain verwendet wird, die eine Zugriffsberechtigung erfordert, um einige der mit öffentlichen Blockchains verbundenen Datenschutz- und Regulierungsprobleme zu vermeiden. Ledger wiederum bietet Sicherheitslösungen für Kryptowährungen an, während sich Ripple auf grenzüberschreitende Zahlungen konzentriert, die mit der hauseigenen digitalen Währung XRP abgewickelt werden. Blockstream ist dabei, eine Vielzahl von Sidechain-Anwendungen zu entwickeln, die parallel zu einer Haupt-Blockchain laufen und somit die Funktionalität erweitern. 

Abseits des Finanzdienstleistungssektors stellt Steem ein interessantes Experiment dar. Seine Krypto-basierte Social-Publishing-Plattform ist nach dem Vorbild des Social-News-Aggregators Reddit gestaltet. Benutzer erhalten finanzielle Belohnungen in Krypto-Währung statt so die genannten Upvotes. Erwähnt sei auch die von Canaan Creative hergestellte spezielle Bitcoin-Mining-Hardware. 

Kommen wir zur Finanzierungsebene zurück. Hier finden wir nicht nur klassische Eigenkapitalgeber wie Venture-Capital-Firmen. Die neue Technologie hat sogar eine völlig neue Asset-Klasse geschaffen, bei der sich durch den Verkauf von digitalen Vermögenswerten Eigenkapital beschaffen lässt. Allein 2017 spielten Crowdfundings wie Initial Coin Offerings (abgekürzt ICOs) mehrere Milliarden Dollar für Blockchain-Projekte ein. 

Wildwuchs bei ICOs bringt auch die Regulierer auf den Plan 

ICOs haben Aktivitäten hervorgebracht, die noch spekulativer sind als das herkömmliche Risikokapitalgeschäft. Die neuen Funding Methoden bewegen sich noch weiter weg von dem, was sich Nakamoto (Pseudonym für den Erfinder der Kryptowährung Bitcoin) ursprünglich durch diese Innovation erhofft hatte. Diese neue, hochspekulative Anlageklasse hat wegen einigen Betrugsfällen auch die Aufmerksamkeit der Regulatoren gefunden. 

Gleichwohl gibt es bemerkenswert erfolgreiche ICOs, hinter denen aussichtsreiche Ideen und Produkte stehen. Ethereum und Filecoin ermöglichen beispielsweise sogenannte Distributed Computing Systeme, also Architekturen von dezentralen Rechnersystemen. PitchBook hat ein siebenstufiges Programmiergerüst zur qualitativen Bewertung von ICOs entwickelt. Zusätzlich zu dem, was Risikokapitalgeber typischerweise ohnehin unter die Lupe nehmen, wie die Analyse von Marktchancen, Gründer-Teams, die Auswertung bereits erreichter Meilensteine und die Prüfung rechtlicher und regulatorischer Herausforderungen, schlägt PitchBook auch eine Analyse der finanziellen Anreizstrukturen, der Token-Klassifizierung sowie des gesamten Netzwerk-Ökosystems vor. 

Blockchain-Anwendungen in der Übersicht 

Soweit die Übersicht über einige der wichtigen Player am Markt. Kommen wir nun zu einer systematischen Übersicht über die Geschäftsanwendungen. Wir sehen drei grosse Kategorien für die Blockchain-/ Distributed-Ledger-Technologie: Finanztransaktionen, Datenmanagement und Marktplatz-Aktivitäten. 

Finanztransaktionen 

Im Finanzdienstleistungssektor war der Zahlungsverkehr die erste Anwendung für die Blockchain-Technologie. Dabei geht es beileibe nicht nur um die gehypte Währung Bitcoin (die wir übrigens nicht als zukunftsträchtiges Zahlungsmittel für B2C-Transaktionen ansehen), sondern vor allem darum, traditionelle grenzüberschreitende Zahlungen, die oft mit hohen Gebühren und langen Abwicklungszeiten verbunden sind, zu revolutionieren. 

Blockchain-basierte Clearing- und Settlement-Lösungen werden bereits von Börsen auf ihre Tauglichkeit hin untersucht. Die damit einhergehenden Lösungen versprechen schnellere Transaktionen sowie den Wegfall von kostspieligen und mehrfach getätigten Aufzeichnungen und Abgleichungen. Zum Beispiel beinhalten Post-Trade-Verarbeitungsprozesse derzeit noch Zahlungssysteme, Wertpapierabwicklungssysteme, zentrale Wertpapierverwahrstellen sowie zentrale Gegenparteien - oft in mehreren Gerichtsbarkeiten. 

Ein einfaches Beispiel für diese unnötige Komplexität ist die Praxis, ein Scheckheft abzugleichen. Es gab eine Zeit, in der die meisten Bankkunden ihre Transaktionen aufzeichneten und diese mit dem Kontoauszug der Bank am Monatsende verglichen. Jede Differenz bzw. jeder Streitfall konnte kostspielig und schwierig zu lösen sein, weil jede Partei ihre eigene Version der Abläufe vorhielt. Ähnlich verhält es sich heute noch bei Finanzinstituten, die weltweit Millionen von Transaktionen über multiple Märkte miteinander abstimmen müssen. Gemeinsame, verifizierte Konten sind eine naheliegende Lösung, weil dadurch multiple Verbindungen durch ein System ersetzt werden, bei dem jeder Knoten direkt mit den anderen interagieren kann. 

Für Unternehmen, die ähnliche Aktivitäten in grossem Umfang betreiben, besteht theoretisch die Gefahr, dass ihre Geschäftsmodelle durch dezentralisierte Lösungen gestört werden, die es Kunden ermöglichen, Vermögenswerte und Informationen untereinander auszutauschen, ohne dass dafür noch ein vertrauenswürdiger Vermittler benötigt wird. Im Finanzdienstleistungssektor geht es hierbei um Unternehmen in den Bereichen Zahlungsverkehr, Wertpapierdepotgeschäft und Handel. 

Identitäts- und Datenmanagement 

Eine Blockchain ist eine dezentrale Datenbank. Daher ist es logisch, dass die Technologie bei verschiedenen Datenmanagement-Applikationen nützlich sein kann. Jedenfalls bietet die Technologie die Möglichkeit, Daten zu sichern, Eigentumsrechte zu gewähren und die zugrundeliegenden Daten auf Wunsch gemeinsam zu nutzen. Unternehmen in den verschiedensten Branchen könnten Daten auf dezentrale Datenbanken übertragen und so den Zugang, die Sicherheit und die Transparenz in Bereichen vom Gesundheitswesen bis hin zum Verkehr verbessern. 

Besonders sinnvoll kann das mit Blick auf persönliche Gesundheitsdaten sein. Sie erfordern ein hohes Maß an Sicherheit, doch dem steht bisher in der Regel eine mangelnde Übertragbarkeit entgegen. Im Laufe der Zeit sammeln zahlreiche Stellen Informationsfragmente zu Patienten an. Angesichts zunehmender Datenschutzbestimmungen und der Gefahr durch Computer-Hacking dürfte Verbrauchern daran gelegen sein, die Kontrolle über ihre Daten zurückzugewinnen. Eine dezentralisierte Identitätskontrolle birgt das Potenzial, Individuen das Recht zu geben, nur jene Aspekte über sich selbst zu teilen, die sie auch tatsächlich preisgeben möchten. 

Auch im Bereich des Supply Chain Management bestehen gute Einsatzmöglichkeiten für die Blockchain. Dort kann der Informationsfluss durch die Aufzeichnungspflichten durch Hunderte von Parteien komplex und umständlich sein. Das lässt Blockchain als naheliegende Lösung für die Verwaltung von Handelsdetails erscheinen. So könnten beispielsweise Probleme im Bereich der Lebensmittelsicherheit schneller verortet werden, und der Fluss von Waren könnte leichter über internationale Grenzen hinweg nachvollzogen werden. 

Marktplätze 

Marktplätze sind auf vertrauenswürdige Zwischenhändler angewiesen, die Transaktionen aller Art vermitteln. Blockchains bieten die Möglichkeit zum Aufbau dezentraler Marktplätze. Ein Beispiel dafür ist OpenBazaar, ein dezentraler E-Commerce-Markt nach dem Vorbild von eBay oder Amazon. Anders als die beiden zentralisierten Konkurrenten berechnet OpenBazaar aber keine Plattformgebühren, und es gibt nur wenige oder keine Einschränkungen für Käufer und Verkäufer. In den meisten Branchen gibt es einen Bedarf nach derartigen Marktplätzen, nämlich überall dort, wo es gilt, Käufer und Verkäufer zusammenbringen und Transaktionen aller Art zu vermitteln. In der Industrie ist das etwa der Logistikspezialist C.H. Robinson und im Finanzbereich der Börsenbetreiber Intercontinental Exchange. 

Das Wachstum der Sharing Economy hat ebenfalls neue Marktplätze geschaffen. So dienen Unternehmen wie Uber und Airbnb zunehmend als Märkte für ungenutzte Ressourcen. Doch im Laufe der Zeit könnten immer mehr wirtschaftliche Aktivitäten mithilfe von Blockchains organisiert und abgewickelt werden. In einem futuristischen Szenario ist es sogar vorstellbar, dass alle Kapital- und Arbeitstransaktionen mit Hilfe der Blockchain dezentralisiert werden. Die logische Konsequenz: Wenn Lieferanten, Kunden und Mitarbeiter ihre Transaktionen über Blockchains abwickeln, kommen die Geschäftsmodelle der herkömmlichen Vermittlungsdienste unter Druck. 

Die Grenzen der Blockchain-Technologie 

Abgesehen von wettbewerblichen Überlegungen gibt es einige allgemeine technische Gründe dafür, warum sich die Blockchain-Technologie in naher Zukunft doch (noch?) nicht als so disruptiv erweisen könnte, wie es viele Beobachter und Verfechter der neuen Technologie beschwören. Denn trotz des Hypes gibt es nach wie vor grosse Hürden für einen flächendeckenden Einsatz. So bestehen Zielkonflikte in Sachen Dezentralisierung, Skalierbarkeit und Sicherheit. 

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich zunächst daran zu erinnern, dass Dezentralisierung nicht immer die bessere Lösung für die Abwicklung von wirtschaftlichen Interaktionen darstellt. Denn ohne klare Befehlsketten können Konflikte oder Hindernisse große Probleme verursachen. Schon jetzt sind bei großen Blockchains Streitigkeiten aufgetreten, die zu deren Aufspaltungen geführt haben. Eine zentrale Steuerung hat zwar Nachteile, aber dafür den Vorteil, durch ihre hierarchische Struktur Streitigkeiten schnell und effizient zu lösen (bzw. gar nicht erst auftreten zu lassen).

Die Skalierbarkeit bleibt ein grosses Problem der Blockchain. Typischerweise verarbeiten alle Knoten alle Transaktionen parallel. Das führt zu enormen Ineffizienzen 

Auch die Skalierbarkeit bleibt ein grosses Problem - typischerweise verarbeiten alle Knoten die Transaktionen parallel, was zu enormen Ineffizienzen führt. Schätzungen von Digiconomist.net zufolge verbraucht allein das Bitcoin-Netz fast 60 Terawattstunden Strom pro Jahr. Zum Vergleich: Das grösste Kernkraftwerk der USA, das Kraftwerk Palo Verde, produziert nach Angaben der Energy Information Administration rund 3.937 Megawatt Netto-Sommerleistung. Fast zwei dieser Anlagen wären daher ein Jahr lang voll ausgelastet, um den Bitcoin zu betreiben. 

Zwar gibt aber einige Lösungsansätze für die Kapazitätsprobleme. Die Reduzierung des Bedarfs an paralleler Speicherung und Verarbeitung ist dabei ein Hauptziel. Im Idealfall sind genügend Knoten beteiligt, um die Vorteile von Blockchain-Protokollen zu nutzen, aber nicht so viele, dass Zeit und Kosten Probleme verursachen. Einige Aktionen können auch aus der Blockkette entfernt werden, um ein besseres Gleichgewicht zwischen Geschwindigkeit und Sicherheit zu erreichen. Aber noch befinden sich solche Lösungen im Anfangsstadium. 

In der Blockchain-Welt gibt es ansonsten auch noch immer Datenschutz- und Sicherheitsbedenken. Während das System an sich ziemlich sicher sein kann, kann das bei einzelnen Konten wesentlich schwieriger sein. Im Falle von Bitcoin kann beispielsweise ein verlorener privater Schlüssel - und die damit verbundenen Gelder - niemals wiederhergestellt werden. Auch Angriffe zur Erlangung der Mehrheitskontrolle sind nicht komplett ausgeschlossen. 

Weil die Bitcoin-Mining-Aktivitäten sowohl profitabler als auch schwieriger geworden sind, haben grosse Miner an Bedeutung gewonnen. Damit werden die Herstellungsprozesse im dezentralen Netzwerk faktisch zentralisiert. Auch ein egoistisches Mining-Verhalten kann zu Problemen führen. Etwa dann, wenn ein Pool von Minern die längste Kette vorübergehend vor den ehrlichen Mitgliedern des Netzes "verstecken". Diese schwarzen Schafe unter den Minern können einen Vorsprung aufbauen, indem sie sich mehr legitime Blöcke und Belohnungen sichern, während die ehrlichen Teilnehmer Ressourcen beim Aufholversuch verschwenden. Dies wiederum könnte die bisher ehrlichen Miner dazu verleiten, sich dem Pool der Egoisten anzuschliessen, bis am Ende die Schurken-Miner das Netzwerk dominieren. 

Die dezentrale Struktur der Blockchain ist unter philosophischen Aspekten reizvoll. In der Praxis dürfte diese stark auf Eigenverantwortung basierende Systematik für viele Bürger indes keine Alternative sein

Vielleicht noch wichtiger ist jedoch, dass eigentlich kleine Probleme unter dem Blockchain-Regime zu riesigen Schäden führen können. So ist der Diebstahl oder der Verlust einer Bankkarte ärgerlich, aber doch ein insgesamt kleines, überschaubares Problem. Der Verlust eines privaten Schlüssels kann im Blockchain-System jedoch zu massiven, irreversiblen Verlusten führen. Das liegt an der Natur der Sache: In einem dezentralen System liegt die Verantwortung für die Sicherheit bei jedem Einzelnen. Was unter philosophischen Aspekten reizvoll erscheint, dürfte in der Praxis für viele Bürger keine Alternative sein. Viele dürften sich weiterhin gerne auf Dritte bei der Speicherung und der Aufbewahrung wertvoller Informationen verlassen. Das würde die Blockchain-Philosophie ad absurdum führen, die ja genau darauf abzielt, Mittelsmänner auszuschalten. 

Ausserdem können Fehler zu massiven Problemen führen - eben weil Prozesse bzw. Transaktionen unumkehrbar sind. Beispielsweise führte eine Code-Schwachstelle zu einem Streit und letztlich einer Aufspaltung zwischen Ethereum und Ethereum Classic. Je öfter intelligente Verträge Verbreitung finden, umso mehr müssen die Benutzer eine fehlerfrei funktionierende Software gewährleisten. Denn letztlich wird das bisherige zwischenmenschliche Vertrauen durch Vertrauen in den verwendeten Code ersetzt. Wenn aber ein Code das Gesetz ist, dann ist eine Unkenntnis des Codes keine Entschuldigung.

Im dritten und letzten Teil der Blockchain-Serie gehen wir am 19. Juli 2018 auf die Auswirkungen auf herkömmliche Methoden der Aktienanalyse ein.

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Über den Autor

Jim Sinegal  Jim Sinegal is the associate director of the financial team at Morningstar.