Stellt das Nullzinsumfeld die Massstäbe der Anleger auf den Kopf?

Ausgerechnet im Juni fassen sich ETF-Anleger ein Herz und kaufen Aktien-, Gold- und Hochzins-ETFs. Im Gegenzug verkaufen sie ETFs für EUR-Staatsanleihen. Einige Erklärungsversuche zu scheinbar erratischem Anlegerverhalten.

Ali Masarwah 14.07.2016
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Die Annahme, wonach das Verhalten von ETF-Anlegern die Bewegungen am Kapitalmarkt widerspiegelt, wurde bereits häufiger in der Vergangenheit auf den Kopf gestellt. ETFs sind im Kommen, und nicht selten kaufen Anleger ETFs auch dann, wenn die ihnen zugrundeliegenden Märkte fallen. Der ETF-Markt zeichnet sich derzeit durch säkulares Wachstum aus und ist nicht nur ein Spiegel der vorherrschenden Markttrends. (Nebenbei bemerkt: Das zeigt auch, dass es sich bei ETFs keinesfalls um „Mr. Market“ handelt!). 

Im Brexit-Monat Juni war es noch schwieriger als ohnehin, anhand der Geldflüsse in Indexvehikel eindeutige Trends am Kapitalmarkt nachzuzeichnen (lesen Sie die Details zu den Flows im zweiten Quartal hier).  Im Juni waren etliche Gegenläufige Trends zu beobachten: Auf der Kaufliste der Anleger standen gleichermassen Gold-ETPs, Emerging Markets Aktien- sowie -Bond-ETFs, USA Aktien-ETFs und Dollar-Inflationsschutz-Produkte. Auch Geldmarkt-ETFs verbuchten Zukäufe.

Verkauft wurden dagegen ETFs für EUR-Staatsanleihen, Japan- und Europa-Aktien sowie Hochzins-Bonds. Sichere Häfen wurden also gleichermassen angesteuert (Gold) wie verlassen (Staatsanleihen), Aktienrisiken wurden gleichermassen gesucht (Schwellenländer, USA) wie gemieden (Japan, Europa). Und vier von fünf Kategorien für britische Aktien sahen Zuflüsse; nur britische Dividenden-ETFs wurden im Juni überwiegend verkauft. 

Kein Wunder also, dass so mancher Beobachter, zumindest auf den ersten Blick, Schwierigkeiten hat, sich aus den ETF-Flows einen Reim zu machen. Unternehmen wir also den Versuch, die Daten zu interpretieren. Zum einen verdecken aggregierte Monatsdaten die Volatilität der Flows auf Wochen- und Tagesebene. So waren nur die letzten sechs Handelstage im Juni waren von Brexit-Angst geprägt. Zuvor waren Anleger schlicht sorglos: Wir haben bereits verschiedentlich berichtet, dass nur die wenigsten Fondsmanager oder Anleger ein Brexit-Votum der Briten für ein realistisches Szenario gehalten haben. Bis kurz vor dem Referendum signalisierten Umfragen, dass ein Brexit unwahrscheinlich sei. Das dürfte auch zu einem grossen Grad die Juni-Zuflüsse in Aktien-ETFs erklären. Tage mit sorglosen Zukäufen überwogen, und die Gesamttendenz wurde nur teilweise durch Verkäufe in der letzten Juni-Woche belastet (streng genommen beschränkte sich der Ausverkauf auf die zwei Tage um das Brexit-Referendum; danach setzten wieder Käufe ein.) 

EUR-Staatsanleihen blieben zumindest teilweise als Risk-off-Vehikel gefragt 

Neben den beiden gegenläufigen Tendenzen im Monat Juni lassen sich durchaus weitere nachvollziehbare Trends aus den Flow-Daten ermitteln. Dass ETFs für EUR Staatsanleihen verkauft wurden, dürfte sicher zum Teil den schwachen Performance-Aussichten für die vielen Rentensegmente geschuldet sein, deren Renditen in den negativen Bereich gerutscht sind. Allerdings finden sich in der Detaileinsicht Verkäufe vor allem bei solchen ETFs, deren Underlyings einen hohen Anteil an Euro-Südländern aufweisen. Einige Investmentgrade EUR Staatsanleihe-ETFs wurden dagegen gesucht, sodass man auch Risk-off-Trades in diesem Segment verorten kann. 

Die Zukäufe bei Emerging Markets Aktien- und Bond-ETFs dürften Teil des Schwellenländer-Comebacks in diesem Jahr sein. Die lokalen Währungen erholen sich von den Einbussen seit 2014, und bei Schwellenländer Aktien-ETFs war der Juni der fünfte Monat in Folge mit Zuflüssen. Hier dürften immer mehr Anleger auf die Bewertungsabschläge reagiert haben. Andere sind vermutlich auf die überdurchschnittlich gute Performance des MSCI Emerging Markets gegenüber dem MSCI World und europäischen Aktien aufmerksam geworden sein. Die Hausse nährt ja bekanntlich die Hausse. 

Die hohen Zuflüsse in Gold-ETFs und -ETCs dürften wiederum dem Comeback der Krisenwährung geschuldet sein, aber auch hier dürfte der Momentum-Faktor ins Spiel gekommen sein: Viele Investoren dürften die Preiserholung bei Gold zumAnlass nehmen, auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Zudem bieten die Eurokrise, die Unsicherheit um den Brexit und die Sorgen um das Wirtschaftswachstum weltweit auch fundamentale Gründe für Gold-Investments. Last but not least impliziert der derzeitige Nullzins (bzw. Strafzinsen auf Cash-Positionen), dass bei Gold-Investments keine Opportunitätskosten anfallen. Zinsen gibt es auch anderswo nicht zu holen! 

Europa und Japan haben 2016 enttäuscht 

Die Nachfrage nach EUR-Unternehmensanleihen dürfte wiederum zwei Gründe haben: Zum einen sehen Investoren unverändert Kurspotenzial wegen der Bond-Käufe der Europäischen Zentralbank sehen, die seit März dieses Jahres nunmehr auch Unternehmensanleihen vom Markt nimmt. Zudem finden sich in diesem Segment noch am ehesten Renditechancen auf der Bond-Seite. 

Gemischt dürfte die Motivation vieler Anleger sein, die europäische und japanische Aktien verkaufen. Zum einen dürften viele, die zu Jahresanfang taktisch übergewichtet waren, inzwischen von der vergleichsweise schwachen Performance europäischer und japanischer Aktien eines Besseren belehrt worden sein. Wenig überraschend kommen auch die Verkäufe währungsgesicherter Japan-ETFs. In Zeiten ausgeprägter Yen-Stärke machen derartige Trades naturgemäss keinen Sinn.

 

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Über den Autor

Ali Masarwah

Ali Masarwah  Ali Masarwah war von 2011 bis Frühjahr 2021 als Chefredakteur für die deutschsprachigen Anleger Websites von Morningstar verantwortlich