Der beste Weg hin zum inneren Wert

Teil II unserer Reihe zu Aktienbewertungen. Konzentrieren Sie sich auf die erwarteten Erträge von konservativ prognostizierten Cashflows und nicht auf die Scheinpräzision szientistischer Modelle.  

Samuel Lee 16.07.2014
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Im ersten Teil unserer Reihe zu inneren Wert habe ich die Grundlagen der Beziehung von Preis zu Zeit und Risiko kurz beschrieben (lesen Sie hier weiter). Im zweiten dreht sich alles um praktische Lösungen: Wie können Investoren das System des inneren Werts in der Praxis anzuwenden?

Der innere Wert ist der zentrale Aspekt beim Investieren. So weit, so klar. Aber die Sache hat einen Haken: Es werden zwei Schlüsselschätzungen – zukünftige Cashflows und der Diskontierungssatz – zu einem einzigen Wert verschmolzen. Selbst kleine Veränderungen bei den künftigen Cashflows oder Abzinsungssätzen können zu grossen Schwankungen beim inneren Wert führen.

Betrachten Sie das Dividendenwachstumsmodell von Gordon, das die Barwerte der Cashflows berechnet, die mit einer konstanten Rate bis in alle Ewigkeit steigen:

P = D / (r – g),

wobei P der Present Value bzw. Barwert, D der Cashflow des nächsten Jahres, r die erforderliche Rendite (oder Diskontierungssatz) und g die annualisierte Wachstumsrate der Cashflows ist.

Die folgende Tabelle zeigt die Barwerte der Cashflows, wobei D USD 100 ist, g 1 % entspricht und r im Bereich von 3 bis 10 % liegt. Auch wenn ich nur die erforderliche Rendite r ändere, indem ich die annualisierte Wachstumsrate der Cashflows um 1 Prozentpunkt anhebe, hat das die gleiche Wirkung wie die Senkung der erforderlichen Rendite r um einen 1 Prozentpunkt. (Bitte unbedingt beachten, dass der Barwert zunehmend empfindlicher auf Veränderungen des Diskontierungssatzes reagiert, wenn dieser fällt!).

Tabelle: Unterschiedliche Diskonitierungsraten und die Folgen

 Viele Anleger nutzen die historischen Renditen des Capital Asset Pricing Model (CAPM), um geeignete Diskontierungssätze zu schätzen. Dies ist leider ein fatal fehlerhafter Ansatz, der auf zwei falschen Annahmen beruht. Erstens geht er davon aus, dass historische Renditen eine unvoreingenommene Einschätzung der zukünftigen Erträge bieten. Das heisst, dass die Vermögenswerte immer eine konstante Rendite über dem risikofreien Zinssatz liefern oder eine konstante Risikoprämie aufweisen.

Die falschen Verlockungen der Effizienzmarkthypothese

In der Wissenschaft geht man im Allgemeinen davon aus, dass die Effizienzmarkthypothese konstante Risikoprämien impliziert. Dies ist nicht wahr. In guten Zeiten neigt der Markt zu niedrigen Risikoprämien und in schlechten Zeiten verlangt er hohe Prämien. Zweitens geht das CAPM davon aus, dass die erwartete Rendite eines Vermögenswerts linear mit seinem Marktbeta in Beziehung steht, was einfach nicht funktioniert: Vermögenswerte mit hohem Betafaktor und niedrigem Betafaktor neigen dazu, ähnliche Renditen zu haben. Das ist eine Anomalie, die in fast allen Asset-Studien besteht, ob es sich um Aktien, Ramsch-Anleihen, Staatsanleihen oder Rohstoffe handelt.

Das CAPM wird trotz seiner allgemein bekannten empirischen Ausfälle weiter verwendet, weil Investoren wissenschaftlich aussehende Bewertungen haben wollen. Dabei tauschen sie ihr begrenztes Wissen nur gegen falsches Wissen. Eine bessere Möglichkeit ist es meiner Meinung nach, sich einfach auf die erwarteten Erträge aus konservativ prognostizierten Cashflows zu konzentrieren und herauszufinden, ob diese eine angemessene Rendite für die wahrgenommenen Risiken bieten. Das ist Benjamin Grahams Sicherheitsmarge: Schätzen Sie konservativ die erwartete Cashflow-Rendite und vergleichen Sie den Ertrag mit hochwertigen Unternehmens- oder Staatsanleihen. Was diese Methode durch Ungenauigkeit verliert, gewinnt sie an Robustheit.

Die Sicherheitsmarge bringt keine Gewissheit - dafür mehr ... Sicherheit

Beachten Sie, dass diese Art der Anwendung die Rolle der Risikoprämie umkehrt. Im akademischen Innerer-Wert-System ist die Risikoprämie die „faire“ Marktrendite für einen Vermögenswert mit einer bestimmten Risikobehaftung (wie auch immer das definiert ist) – es ist dem Anleger durch irgendein Modell oder historische Datensätze vorgegeben. Beim Sicherheitsmargenansatz wird die Risikoprämie in ihre eigene Schätzung der erwarteten Überschussrenditen transformiert.

Die Gordon-Gleichung des Dividendenwachstumsmodells ist für Anleger ein guter Ausgangspunkt zur Schätzung der erwarteten Renditen. Wir können einige der Variablen neu zuordnen und neu interpretieren, um die Gleichung für uns nützlicher zu machen:

r = D / P + g,

wobei r die erwartete Rendite, D / P die Dividende geteilt durch den Preis oder die Rendite ist und g das Wachstum der Dividende je Aktie oder des Cashflows. R ist nicht mehr der Diskontierungssatz, sondern wird unsere erwartete Rendite. Diese Gleichung geht davon aus, dass sich langfristig Bewertungsänderungen aufheben und Ertrag sowie Cashflow-Wachstum die Rendite dominieren.

Ein Bewertungsänderung tritt auf, wenn der Preis sich ändert, der Cashflow aber nicht. Wenn eine Anleihe anfangs 10% Rendite bringt und der Preis sich vervierfacht, so sinkt die Rendite auf 2,5%. Die realisierten 300% Rendite sind sehr viel höher als die ursprünglich projizierten 10%. Das Gegenteil kann leider aber auch passieren. Wertänderungen dominieren die Renditen kurzfristig und sind damit auch die am wenigsten vorhersehbaren Elemente der erwarteten Rendite.

Die vollständige Gleichung für die erwartete Rendite kann folglich so geschrieben werden:

r = y + g + s,

wobei r die erwartete Rendite, y die aktuelle Cashflow-Rendite (manchmal auch als Carry bezeichnet), g das Cashflow-Wachstum je Aktie und s der Ertrag aus Bewertungsänderungen ist (was Jack Bogle den spekulativen Ertrag nennt).

Wir sind nun mit den notwendigen Methoden vertraut, fundierte Urteile über die erwarteten Erträge einer Vielzahl von Vermögenswerten zu treffen. Diese Methode ist für einzelne Wertpapiere leider nicht sehr nützlich, aber hilfreich für breite Asset-Klassen, die ziemlich vorhersehbare Cashflows und langfristige Wachstumsraten aufweisen.

Ein Beispiel: Hochzinsanleihen (High-Yield Bonds)

Der US-High-Yield-Bond-Markt wird oft durch den Bank of America Merrill Lynch US High Yield Master II Index repräsentiert. Ende April lag seine Rendite bei 5,5 %. In einer idealen Welt ohne Ausfälle und ohne Renditekurvenänderung können Sie erwarten, etwa 5,5 % annualisiert zu verdienen.

Allerdings haben Schrott-Anleihen (Junk-Bonds) historisch gesehen etwa 2,7 % annualisiert durch Ausfall verloren. Im direkten Jahresvergleich waren die Verluste entweder viel kleiner oder viel grösser. In Boom-Zeiten, wenn die Finanzierung einfach ist und die Unternehmensgewinne solide sind, gibt es nur geringe Ausfallraten. In schlechten Zeiten erreichen die Ausfallraten Spitzenwerte. Wenn Sie schlau sein wollen, kalkulieren Sie die erwarteten Kreditverluste anhand Ihrer Wirtschaftsprognose der nächsten paar Jahre. Das ist kein leichtes Spiel, richtigzuliegen. Für die meisten Anleger ist es die bessere Wahl, etwas in der Nähe des historischen Durchschnitts anzunehmen.

Jetzt sind wir bei den beiden grössten Komponenten für unsere erwartete Rendite-Prognose: Wir haben y, die Rendite, und wir haben g, die erwartete Wachstumsrate der Cashflows je Aktie. Übertragen in unsere Gleichung erhalten wir:

r = y + g = 5,5 % – 2,7 % = 2,8 %.

Das ist geradezu entsetzlich, wenn man bedenkt, dass

1) High-Yield-Rentenfonds sogar vor Gebühren gekämpft haben, um den Junk-Bond-Index zu erreichen, und

2) eine risikofreie Rendite von bestenfalls 2% lässt ein Investment in Hochzinspapiere übermässig riskant erscheinen.

Warum sind Anleger dennoch bereit, heute solche hohen Preise für Junk Bonds zu zahlen? Es gibt zwei plausible und einander nicht ausschliessende Erklärungen. Erstens könnte der Markt von viel geringeren jährlichen Kreditausfällen ausgehen. Die Investmentgesellschaften PIMCO, Blackrock und viele andere Manager erwarten, dass das nächste Jahr für die Kredite dank einer sich erholenden Wirtschaft, genügend Liquidität und niedriger Zinsen positiv ausfallen wird. Zweitens hat die verzweifelte Suche der Anleger nach Einkommen die Bewertungen von Hochzinsanleihen in die Nähe einer Blasenbildung getrieben.

Wir haben bisher auf den dritten Begriff „s“ verzichtet – den Ertrag durch Bewertungsänderungen. Junk Bonds können mehr als 5,5 % auf Jahresbasis zulegen, wenn ihre Erträge fallen. Allerdings ist s der, wie ich bereits erwähnte, am schwierigsten zu prognostizierende Teil. Ich denke, es ist besser, von „s“ in Richtungsbegriffen zu denken – was ist auf lange Sicht der plausibelste Beitrag?

Zinssätze und Spreads sind auf Rekordtiefständen. Weitere positive Überraschungen werden wahrscheinlich nur geringe Auswirkungen haben. Allerdings könnten negative Überraschungen Renditen und Spreads ausschlagen lassen. Die Auszahlung ist asymmetrisch. Bewertungsänderungen schaden wahrscheinlich mehr, als sie nützen.

Beachten Sie immer, dass die erwarteten Renditen nur Erwartungen sind und keine Garantien. Doch genau das heisst investieren. Es ist eine Wahrscheinlichkeitsübung. Denn die Zukunft ist schwer vorherzusagen, man sollte vorsichtige Schätzungen wie ein Polster gegen Fehler verwenden. Das ist, kurz gesagt, die Sicherheitsmarge. 

Zusammenfassung

  • Der innere Wert ist der wichtigste Aspekt bei Investitionen.
  • Er ist auch als Kapitalwert (net present value) bekannt und wird als Barwert der zukünftigen Cashflows definiert.
  • Der Diskontierungssatz gleicht Zahlungsströme über die Zeit aus. Er setzt sich aus einer risikofreien Komponente und einer Risikoprämie zusammen.
  • Leider bündelt der innere Wert Cashflow- und Diskontierungssatzschätzungen.
  • Ein soliderer Weg, den inneren Wert zu betrachten, ist, ihn als erwartete Rendite, konservativ geschätzt, neu zu formulieren. Das ist Benjamin Grahams Sicherheitsmarge.
  • Die erwartete Rendite setzt sich in der Summe aus drei Teilen zusammen: laufende Rendite, erwartetes Wachstum des Cashflows einschliesslich der Rendite und die erwarteten Änderungen der Bewertung. Da Bewertungsänderungen schwer vorherzusagen sind, ist es besser, sich auf die ersten beiden Teile zu konzentrieren.
  • Für eine ausführlichere Behandlung der Grundlagen der Bewertung lesen Sie Ivo Welchs kostenloses Lehrbuch Corporate Finance, 3rd Edition, oder die kostenlose und ausgezeichnete Courseras-Edition Einführung in die Finanzierung (Introduction to Finance), gelehrt von Gautam Kaul.

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Über den Autor

Samuel Lee  Samuel Lee is an ETF Analyst with Morningstar.