Einer meiner Lieblings-Blogger, Barry Ritholtz, hat die Konjunkturperspektive auf den Punkt gebracht: „Auf die Bewertungen zu blicken, beinhaltet zwei Faktoren: Den Preis und den Gewinn. Der eine ist bekannt, der andere nicht. Das ist der Punkt, an dem die Wirtschaft ins Spiel kommt. Einkünfte aus Unternehmensgewinnen hängen zu einem großen Teil von einem zunehmenden globalen Wirtschaftswachstum ab.“
Der Wirtschaftskreislauf entscheidet
Ritholtz befürwortet ein Preismodell, in dem Bewertungen auf Basis kurzfristiger Erträge vorgenommen werden, die wiederum durch den Konjunkturzyklus bestimmt sind. Ob Aktien teuer sind, hängt nach diesem Modell davon ab, wie die Marktteilnehmer die aktuelle Position im Konjunkturzyklus einschätzen und wo wir uns tatsächlich im Zyklus befinden. Eine Bewertung erfordert also eine Einschätzung des Konjunkturzyklus. Dieses Aktienbewertungsmodell ist das bevorzugte an der Wall Street.
Aktien sind nach Ansicht vieler Akteure der Wall Street derzeit „angemessen“ bewertet. Sie beziehen sich auf das leicht überdurchschnittliche Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV), niedrige Inflation, leichte Zuflüsse in Aktien, ultralockere Geldpolitik und so weiter. All diese Faktoren rechtfertigen ihrer Meinung nach noch höhere KGVs und möglicherweise ein noch höheres Gewinnwachstum.
Für und wider des inneren Werts
Warren Buffett ist ein Vertreter des inneren Werts als Bewertungsmethode. Im Handbuch der Anteilseigner von Berkshire Hathaway schreibt er, dass der innere Wert „der abgezinste Wert der Barmittel ist, der während der Lebenszeit eines Unternehmens entnommen werden kann“. Das klingt nicht sehr unterschiedlich zum Konjunkturzyklusmodell. Denn sollte nicht der innere Wert während einer Hausse zunehmen, wenn das Ergebnis steigt, und während einer Baisse fallen, wenn das Ergebnis sinkt? Vielleicht, aber nicht in dem Ausmaß, wie wir es sehen. Der innere Wert der Aktienmärkte wird unter Annahme vernünftiger Wachstums- und Diskontsätze durch Zahlungsströme von teilweise mehr als 10 Jahren bestimmt.
Im nächsten Jahr könnte das Ergebnis sehr hoch ausfallen, was angesichts der naturgemäßen Rückkehr aggregierter Unternehmensgewinne zum Mittelwert den inneren Wert nicht annähernd so stark beeinflussen sollte. Robert Shillers bahnbrechende Veröffentlichung von1981 ist eine überzeugende Demonstration, dass Aktienmarktpreise viel zu volatil in Bezug auf Veränderungen ihres inneren Wertes und rein rationaler Kräfte sind.1 Der Herdentrieb (animal spirits) beherrscht demnach die Märkte.
Grafik: Dividendenrenditen des S&P 500 im historischen Verlauf
Investoren, die sich wie Jeremy Grantham und Seth Klarman am inneren Wert ausrichten, sehen überall Vermögensblasen und berufen sich auf konjunkturbereinigte Bewertungsmethoden wie das Shiller-KGV, das den 10-Jahres-Durchschnitt der inflationsbereinigten Erträge heranzieht. Diese Vertreter hassen die Federal Reserve für ihre „Manipulation“ oder „Verzerrung“ von Marktpreisen.
Wenn es einen entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Schulen gibt, dann der, dass der Konjunkturzyklus-Ansatz ein nur leicht verschleierter Markt-Timing-Ansatz ist. Bei John Maynard Keynes’ Schönheitswettbewerb gewinnt derjenige, der am genauesten zu bestimmen vermag, was die durchschnittliche Meinung der durchschnittlichen Meinungen ist. Tatsächlich sind Preismodelle, die sich auf die nächsten Jahre konzentrieren, nur gering an den inneren Wert gekoppelt. Damit will ich nicht sagen, dass das Modell falsch oder notwendigerweise schlechter als der wertorientierte Ansatz (intrinsic-value approach) ist.
Menschen haben unterschiedliche Vorlieben. Anleger, die sich vorwiegend an diskontierten künftigen Cashflows orientieren und Kursbewegungen, Stimmungen und dergleichen eher wenig Aufmerksamkeit schenken, werden eher dem wertorientierten Ansatz zuneigen. Anleger, die kurzfristig auf die relative Performance schauen, richten sich rationalerweise am Konjunkturzyklus aus.
Voll investiert und kein Spaß dabei
Ich denke, man kann sagen, dass Investoren, die nach dem inneren Wert investieren, in der Minderheit sind. Die meisten Investoren achten darauf, wie sich die Unternehmen kurzfristig in Bezug auf vergleichbare Unternehmen entwickeln, und entwickeln allenfalls eine persönliche Einschätzung der Risiken und Höhe der künftigen Zahlungsströme, um Überraschungen zu vermeiden. (Während der Dotcom-Blase, sagte der beachtenswerte Barton Biggs: „Ich bin zu 100 % investiert und fürchte mich zu Tode.“) In der Tat sind viele gezwungen zu investieren, da sie sich um das Geld anderer Leute kümmern, und riskieren dabei ihren Hals, wenn sie falsch liegen und am Ende allein dastehen.
Meine Sympathien liegen – keine Überraschung - beim wertorientierten Investieren. Ich meine allerdings deshalb nicht, dass wertorientierte Investoren die Weisheit mit Löffeln gefressen haben und Konjunkturzyklusinvestoren Fantasten sind. Das Problem mit dem inneren Wert ist, dass man selbst mit einer Kristallkugel nicht zwangsläufig Geld verdienen würde, indem man in und dann wieder aus dem Markt geht. Shillers Arbeit zeigt, dass der Markt für viele Jahre über- oder unterbewertet sein kann. Ein Investor, der Mitte der 1970er Jahre die überaus rosige Zukunft der Aktienmärkte richtig vorausgesehen hätte, hätte einen jahrzehntelang anhaltenden Bärenmarkt ertragen müssen, bevor er seine süße Rehabilitation hätte erleben dürfen. Schade nur, dass er wahrscheinlich lange vorher seinen Job oder seine Nerven verloren hätte.
Grafik: Langfristiger Vergleich zwischen Aktienkursen und innerem Wert
Das kurzsichtige Konjunkturmodell beschreibt eigentlich ausgezeichnet, wie sich die Aktienmärkte kurz-und mittelfristig verhalten: Aktien entwickeln sich freundlich, wenn Gewinnüberraschungen positiv ausfallen und umgekehrt, auch wenn das Ergebnis wahrscheinlich nur zu dem langfristigen Durchschnitt zurückkehrt. Ein Anleger kann einen Reibach machen, indem er eher und intelligenter als die Menge herausfindet, wann der Zyklus dreht.
Die Wall Street arbeitet nach diesem Modell, weshalb eines der bevorzugten Bewertungsmodelle der Vergleich des geschätzten Kurs-Gewinn-Verhältnisses zu seinem historischen Mittelwert ist. Zukünftige Ergebnisse sind prozyklisch und optimistisch, aber sie spiegeln die Konsensschätzungen auf kurzfristige Gewinne wider und als Erweiterung den Blick, wo wir im Konjunkturzyklus stehen. Ein historisch niedriges KGV kann dahingehend interpretiert werden, dass der Markt ungewöhnlich ängstlich in Bezug auf die kurzfristigen Ertragsaussichten ist. Dieses kurzsichtige Gewinnmodell ist theoretisch schwach, es funktioniert aber, weil es so viele Investoren – wissentlich oder nicht – nutzen.
Market Timing langfristig kaum erfolgreich
Eine Binsenweisheit besagt, dass Markt-Timing unmöglich ist. Verlässliche Studien haben hingegen Hinweise gefunden, dass einige Hedgefonds und in geringerem Ausmaß einige Investmentfonds Markt-Timing-Fähigkeiten haben. Ich spreche dabei nicht von der Möglichkeit, Ein-Monats-Marktrenditen vorherzusagen. Bislang hat es keine Studie vermocht, überzeugende Beweise dafür zu finden. Vielmehr scheinen bestimmte Führungskräfte in der Lage zu sein, zu wissen, wann die Liquiditäts- oder Volatilitätsaussichten gut oder schlecht sind, und verschieben ihre Marktpositionen entsprechend.2, 3
David Tepper, der bestverdienende Hedgefondsmanager der Welt, bezeichnete die Aktienmärkte Ende 2012 auf Basis des KGV als extrem billig. Er ging so weit zu sagen, dass das Verlustrisiko gering und der Aufwärtspotenzial hoch ist, aufgrund des globalen „Puts“ der Zentralbank und gedämpfter Inflation. Er hatte recht, wie bereits mehrfach in der Vergangenheit, als er Ende 2007 beispielsweise 40 % in Cash verlagerte, um im Frühjahr 2009 wieder in risikoreiche Anlagen zu investieren. Die kurzsichtigen Gewinnmodelle sowie ein tiefes Verständnis für die Zentralbankhaltung scheinen eine starke Kombination für das Markt-Timing zu sein.
Es gibt dem gegenüber nicht sehr viele wertorientierte Investoren, die Markt-Timing betreiben. Warum? Der innere Wert ist nahezu nutzlos für die Vorhersage von Marktbewegungen über einen Zeithorizont von weniger als einem Jahrzehnt. Es ist überraschend schwer, Markt-Timing-Regeln aufzustellen, die auf Basis einer robusten Bewertungsbasis überdurchschnittliche Renditen auch in einem Backtest erzeugen. (Auf der anderen Seite ist es sehr einfach, dynamikbasierte Timing-Signale zu finden, die auch in Backtests funktionieren.)
Wer es sich zur Gewohnheit gemacht hat, auf Basis der Bewertung in den Markt und wieder heraus zu gehen, hinkt der Benchmarks für längere Zeit hinterher, auch wenn solche Bemühungen am Ende rentabel sind. Die meisten erfolgreichen wertorientierten Investoren sind Stockpicker, die normalerweise kein Markt-Timing betreiben (Extremphasen einmal ausgenommen). Ich glaube, die meisten erfolgreichen Markt-Timer spielen den keynesianischen Schönheitswettbewerb. Sie können die Vorstellung eines idealisierten Marktwerts, zu dem der Markt tendieren muss, nicht ertragen.
Drei wichtige Bedingungen für den Timing-Erfolg
Erfolgreiche Markt-Timer teilen einige Gemeinsamkeiten:
1) Sie arbeiten nicht für Wall-Street-Banken oder Broker und auch nicht als freie Berater – sie sind Hedgefondsmanager (und seltener Investmentfonds-Manager).
2) Sie glauben, dass die Zentralbanken einen enormen Einfluss auf die Preise von Vermögenswerten haben, und versuchen deshalb nie, gegen sie zu kämpfen – außer, es gibt starke Gründe dafür.
3) Sie rennen keinen Trends hinterher, sondern machen vielmehr einen großen Bogen darum, denn sie wissen: Wenn die Erwartungen des Marktes auf Basis kurzfristiger Fundamentaldaten hauptsächlich positiv sind, sollten sie gegen den Trend wetten.
Der letzte Teil unterscheidet die George Soroses dieser Welt von den Möchtegerns.
Sie sind nicht Michael Jordan!
Was bedeutet das nun als praktischer Investitionsratschlag? Sollten Sie die „Kaufen-und-Halten“-Strategie verwerfen und lieber gesamtwirtschaftliche Prognosen anstellen? Es ist möglich, ein Michael Jordan zu sein, aber nicht für Sie. Markt-Timing kann profitabel sein, aber es gibt nur wenige Marktzyklen in einem Anlegerleben. Selbst wenn Sie den Marktzyklus bei einer Gelegenheit getroffen haben, ist es schwer zu sagen, ob es durch Glück oder Können war. Vorherzusagen, wann der Marktzyklus seinen Zenit erreicht hat, ist eine Übung in extremem (fast immer ungerechtfertigtem) Selbstvertrauen.
Langfristinvestoren sollten eben so agieren: langfristig und nicht hektisch!
Die meisten Investoren sollten nicht versuchen, den Markt zu timen, sondern sich wie wertorientierte Stockpicker verhalten: Halten Sie Ihre Aktien beharrlich, machen Sie allenfalls von Zeit zu Zeit Anpassungen gegen die Marktschwankungen. Sie sollten alle Vorhersagen der Wall Street ignorieren, weil derartige Prognosen prozyklisch und in der Regel auf lange Sicht falsch sind. Darüber hinaus werden diese Vorhersagen für Menschen gemacht, die das Rennen der kurzsichtigen Gewinnüberraschung laufen. Privatanleger, die für den Ruhestand sparen, haben den Luxus, auf lange Sicht anzulegen – wenn sie sich selbst disziplinieren und nicht neidisch auf ihre Nachbarn sind.
Für diejenigen, die kurzfristig orientiert sind, ist zu sagen, dass die Wall-Street-Prognosen sie ins Hintertreffen bringen. Immerhin ist der keynesianische Schönheitswettbewerb ein überlegener Richter über die Konsensansicht der Konsensansichten und nicht nur ein Teil davon. Der Hauptgrund, das öffentliche Research der Wall Street zu studieren, ist, eine Konsensposition zu identifizieren, um zu sehen, wo sie sich am meisten von der eigenen Einschätzung unterscheidet.
Die Kosten für das Markt-Timing sind enorm und potenziell tödlich für die eigene Altersvorsorge. Anleger, die erhebliche Vermögenswerte zu verlieren haben, sollten das Spiel nicht spielen. Junge Anleger mit langlaufendem Lebenseinkommen können es sich leisten, das Spiel zu spielen, und im Laufe der Zeit lernen, ob sie gut darin sind, ohne ihr Ruhestandsvermögen zu vernichten. Sie sollten jedoch wissen, dass sie wahrscheinlich auf der Verliererseite stehen, und ihre Positionen in der Größe entsprechend anpassen.
1 Robert J. Shiller. „Do Stock Prices Move Too Much to Be Justified by Subsequent Changes in Dividends?,“ American Economic Review, 1981, Vol. 71(3), 421–436.
2 Charles Cao, Timothy T. Simin, and Ying Wang. „Do Mutual Fund Managers Time Market Liquidity?“ Journal of Financial Markets, 2013, Vol. 16(2), 279–307.
3 Charles Cao, Yong Chen, Bing Liang, and Andrew W. Lo. „Can Hedge Funds Time Market Liquidity?“ Journal of Financial Economics, 2013, Vol. 109, 493–516.