Die Schuldenkrise der Industrieländer ist heute Legende. Wohl kaum ein Thema hat uns in den letzten Jahren so bewegt wie die exzessive Verschuldung der Eurozone, den USA und Japans und die daraus resultierenden Folgen. Die Zerreißprobe für die öffentlichen Haushalte hatte ihren Ursprung in der Finanzkrise von 2007 bis 2009. Zum einen mussten Banken weltweit gestützt werden, zum anderen haben die nachfolgenden Konjunkturprogramme die staatlichen Defizite in ungeahnte Höhen getrieben. Irland war letzte Woche, Portugal vorgestern, Griechenland gestern und heute ist Zypern. Die Krise hält uns alle, Investoren, Vermögensverwalter und Beobachter, auf Trab!
Doch was ist eigentlich mit der anderen Seite der Medaille? Was ist mit den Unternehmen? Wir erinnern uns, dass die Finanzkrise immer auch eine Bankenkrise war, und die bewirkte eine restriktivere Kreditvergabe seit 2008/09. Das stürzte viele Unternehmen wiederum in eine (Refinanzierungs-)Krise. Auch die schwierige gesamtwirtschaftliche Lage hat seit 2009 viele Branchen in Europa unter Druck gesetzt. Wie hat sich die Verschuldungslage seitdem für Unternehmen entwickelt?
In einem Parforce-Ritt wollen wir einen Überblick über den Stand der Konsolidierung in den großen europäischen Sektoren liefern. Wo stehen Europas Unternehmen heute? Gibt es überhaupt eine Schuldenkrise bei den Unternehmen? Wenn ja, in welchen Sektoren? Wie gehen die Unternehmen damit um? Tilgen sie ihre Schulden, und wenn ja, senken sie dabei auch ihren Verschuldungsgrad? Auf welche branchenspezifischen Besonderheiten sollten Anleger heute achten? Wir fassen die aktuellen Erkenntnisse der Morningstar-Aktienanalysten zu europäischen Unternehmen zusammen. Weiter unten finden Sie eine Tabelle, die die Verschuldungsquote der im Text hervorgehoben Unternehmen zeigt.
Griechenland, ick höre dir Trapsen: Basismaterialien
Wir starten unsere Übersicht mit den Rohstoff- und rohstoffbearbeitenden Unternehmen Europas. Diese gleichermaßen zyklisch ausgerichteten wie kapitalintensiven Unternehmen hatten seit der Finanzkrise eine Herkulesaufgabe zu bewältigen. Sie mussten den Absturz der Konjunktur 2009 verkraften, Kapazitäten reduzieren und gleichzeitig ihre Finanzen auf eine solide Grundlage stellen.
Europas Stahlgigant ArcelorMittal steht stellvertretend für viele innerhalb der Rohstoffbranche. Auf den ersten Blick hat das Unternehmen seit 2008 große Fortschritte gemacht: Die Nettoverschuldung wurde seitdem von 30 Milliarden Euro auf 22 Milliarden Euro per Ende 2012 gesenkt. Zudem wurde die Laufzeit der Schulden von durchschnittlich 2,6 Jahre 2008 auf 6,1 Jahre per Ende 2012 gestreckt, die Cash-Reserven deutlich von 12 Milliarden auf 14,5 Milliarden Euro erhöht. Darüber hinaus wurde die Abhängigkeit von den Banken ebenso deutlich gesenkt wie die Ausgaben für Investitionen.
Ein Beispiel für erfolgreiches Deleveraging, also? Nicht ganz. Denn das schwache Wachstum in Europa hat die Gewinne ArcelorMittals stark in Mitleidenschaft gezogen. Und jetzt kommt ein Phänomen zum Tragen, das an das Beispiel Griechenlands und anderer Euro-Südländer erinnert. Es wird eisern gespart, und trotzdem bleibt der Erfolg aus.
Die Situation bei Rohstoffunternehmen erinnert an die Sparanstrengungen der Euro-Südländer: Es wird eisern gespart, und trotzdem bleibt der Erfolg aus
Die Schuldensituation ist bei ArcelorMittal wie bei etlichen anderen Rohstoffunternehmen heute sogar deutlich schlechter als 2008. Das lässt sich einfach messen, indem man die Nettoverschuldung ins Verhältnis zum Gewinn setzt. Im Jahr 2008 wies ArcelorMittal eine Verschuldungsquote (leverage ratio) von etwa 1 auf – gemessen am Verhältnis Vorsteuergewinn Ebitda zu Nettoschulden. Per Ende 2012 lag die Quote bei 2,6. Warum? Nun, es kommt beim leverage ratio eben nicht nur auf den Zähler (absolute Höhe der Schulden), sondern auch auf den Nenner (Unternehmensgewinne) an. Schrumpfen beide Größen, sind alle Konsolidierungsbemühungen für die Katz gewesen.
Deshalb erscheint bei ArcelorMittal unter den derzeitigen Bedingungen eine nachhaltige Senkung seiner Verschuldungsquote auf unter 2 frühestens erst im Jahr 2014 möglich.
Nicht viel anders verhält es sich auch bei den holzverarbeitenden Unternehmen UPM und Stora Enso. Beide haben zwar das absolute Schuldenniveau gesenkt; sie mussten aber seit 2008 gravierende Gewinnrückgänge hinnehmen. Der Zementhersteller Lafarge wiederum konnte zwar seine Verschuldungsquote seit 2008 von 3,7 auf 3,3 senken, allerdings dürften die Umsätze des Unternehmens in Europa angesichts schwacher Konjunkturaussichten 2013 wieder sinken. Hier ist also das letzte Wort in Sachen Deleveraging noch nicht gesprochen.
Sweet spot bei den Konsumgüterherstellern
Ein Unterschied wie Tag und Nacht zeigt sich indes beim Vergleich des Konsumgütersektors mit den Rohstoffproduzenten. Die Konsumgüterbranche - die zyklische wie die defensive - ist deutlich weniger kapitalintensiv. Doch nicht nur der niedrigere Kapitaleinsatz spielt LVHM, Prada oder auch Henkel in die Hände: Im Zuge des Einsatzes neuer Technologien sind die das Management der Lieferketten und der Lagerbestände deutlich effizienter geworden, was ebenfalls weniger Kapital bindet als zuvor. Etliche Luxusgüterhersteller zeichnen sich zudem durch integrierte vertikale Vertriebsmodelle aus und setzen auf (kapitaleffizentes) E-Commerce.
Der Überblick zeigt, dass die leverage ratios von Konsumgüterherstellern Anlegern keine Sorgenfalten ins Gesicht zu treiben brauchen. Beispiel Luxottica (Ray Ban, Oakley): Der Schuldenstand ist in den vergangenen Jahren von 2,03 Milliarden auf 1,66 Milliarden Euro per Ende 2012 gesunken, auch wenn das Unternehmen etliche Übernahmen mit den Einsatz von Fremdkapital gestemmt hat. Der Grund: Der operative Gewinn wächst derzeit doppelt so schnell wie der Umsatz. Auch wenn der Investitionsaufwand demnächst steigen dürfte, können die steigenden Ausgaben vom dynamischen Gewinnwachstum aufgefangen werden.
Die leverage ratios von Konsumgüterherstellern brauchen Anlegern keine Sorgenfalten ins Gesicht zu treiben
Dasselbe Bild zeigt sich bei LVMH. Auch hier schreitet der Schuldenabbau voran, ungeachtet der Übernahme von Bulgari. Auch hier dürfte das Wachstum im Filialgeschäft die Capex-Steigerung im Zaum halten. Die debt to equity ratio liegt derzeit bei sehr niedrigen 0,17 und sie dürfte in diesem Jahr weiter sinken. Ähnlich die Situation bei Henkel, wo die Schuldenquote in den vergangenen Jahren deutlich gesunken ist, auch wenn das absolute Schuldenniveau kaum reduziert wurde. Heute weist der deutsche Konsumgüterhersteller eine Debt/Equity-Ratio von 0,26 auf.
Das bringt uns zur Frage nach den Perspektiven: Werden die Konsumgüterhersteller angesichts hoher freier Cashflows weiter ihre Barbestände zusammenhalten? Es erscheint möglich, dass künftig brach liegendes Kapital stärker für Übernahmen genutzt wird – und schließlich befinden sich die Kapitalmarktzinsen nahe ihrer Rekordtiefs, sodass auch höhere Schulden für solide Player kein Problem darstellen dürfte.
Wir kommen als nächstes zu Automobilherstellern und Telekomunternehmen (Lesen Sie hier weiter)
Tabelle: Die Verschuldungsquote ausgewählter europäischer Unternehmen