Es fällt in diesen Tagen schwer, bei der Lektüre von Finanzgazetten nicht auf die allfälligen Kapitalmarktprognosen zu stoßen, die zum Jahresanfang die Runde machen. „Wo steht der DAX/SMI/Euro Stoxx zum Jahresende?“, ist eine beliebte Frage, und üblicherweise wird der treffsicherste Kapitalmarktanalyst des Vorjahres in diesem Kontext gefeiert. In der Regel darf dieser Experte an prominenter Stelle in dem Artikel seine Prognose für das nächste Börsenjahr zum besten geben. Das ist das jährlich wiederkehrende Jahresanfangsritual.
Heute, zum Start des neuen Jahres, findet man überwiegend optimistische Einschätzungen für das Aktienjahr 2013. Eine aktuelle Umfrage der deutschen Tageszeitung „Die Welt“ unter Finanzanalysten ergab, dass die Profis im Schnitt einen DAX-Stand von gut 8.040 Punkten zum Jahresende erwarten. Das klingt nach wenig, aber hinter dem Durchschnittswert von 8.040 Punkten stehen zum Teil ambitionierte Einzelprognosen: Einige Profis rufen bis 8.900 DAX-Punkte auf.
Es ist üblich, dass nach einem Hausse-Jahr Analysten einen weiteren Anstieg der Kurse prognostizieren. Steigende Kurse werden typischerweise gedanklich für die Zukunft fortgeschrieben. Spiegelbildlich verläuft dieses Verhaltensmuster nach Baisse-Jahren. Dann schreiben die so genannten Sell-Side-Analysten - Sie verdienen ihr Geld mit Prognosen – üblicherweise die negative Kursentwicklung des abgelaufenen Jahres auch für das darauf folgende fort.
Münzwurf schlägt Analystenprognose
Es überrascht deshalb nicht, dass die Finanzprofis selten ein glückliches Händchen mit ihren Punktprognosen haben. Das US-Research-Haus CXO Advisory Group hat etwa für die Zeit zwischen 1998 und 2012 gut 6.500 Prognosen von 68 Analysten zum US-Aktienmarkt ausgewertet. Für den Aktienindex S&P 500 lag die Trefferquote bei den Jahresprognosen im Schnitt bei 47,4%. Damit war die Wahrscheinlichkeit, von einem Aktienanalysten eine korrekte Prognose zum US-Standartwerteindex zu bekommen, niedriger als die Chance, bei einem Münzwurf richtig zu liegen. Dies ist nur ein Beispiel unter vielen.
Deshalb ist auch bei der oben erwähnten, scheinbar demütigen 8.000-Punkte-Prognose Vorsicht angebracht - Bescheidenheit ist schließlich nicht gleichbedeutend mit Realismus!
Und wenn es bei den Aktienmärkten fast immer anders kommt, als auch die Profis erwarten, sollten wir zunächst einen Schritt zurücktreten und inne halten. Angesichts der Tatsache, dass es schwer bis unmöglich ist, die Kursverläufe von Indizes und Aktien verlässlich zu prognostizieren, sollten Anleger, die aktiv ihr Portfolio allokieren möchten, zum Jahresanfang Szenarien durchspielen statt sich auf ein bestimmtes Kursziel festzulegen. Wenn schon die Finanzprofis mit ihren Punktprognosen selten richtig liegen, können Sie es mit Sicherheit auch nicht!
Eine konservative DAX-Prognose sollte nicht mit einer realistischen gleichgesetzt werden.
Starten wir unseren Jahresausblick mit einer Standortbestimmung. Ungeachtet der überwiegend optimistischen Prognosen, sind Aktien heute per se nicht billig! Unsere Aktienanalysten sehen per Ende Dezember sowohl US- als auch europäische Standardwerte als fair bewertet an. Das Kurs-Fair-Value-Verhältnis (KFVV) liegt demnach für US-Aktien, die unsere Morningstar-Analysten untersuchen, bei 0,92. Für europäische Aktien auf unserer Coverage-Liste liegt das KFVV bei 0,93. Ein Wert von 1 signalisiert eine angemessene Bewertung, ein Wert darüber deutet auf eine Über-, ein Wert unter 1 auf eine Unterbewertung. Die Grafik unten zeigt die Bewertung ausgewählter europäischer Branchen.
Heute sind vor allem europäische Versorger und Rohstoffunternehmen günstig bewertet, relativ teuer sind Konsumtitel sowie Technologie- und Telekommunikationsaktien (lesen Sie hier mehr zu unserer Aktienbewertungsmethodik).
Grafik: Die Bewertungen der europäischen Branchen per Jahresende 2012
Nun sind Sie an der Reihe. Sollten Sie zu den Anlegern gehören, die ihr Portfolio zum Jahresanfang neu justieren wollen (lesen Sie mehr hier über das, was dabei zu beachten ist), können Sie sich an folgenden 3 Szenarien orientieren:
Szenario 1: 2013 bleibt alles, wie es ist
Sie glauben an ein Weiterwursteln der europäischen und amerikanischen Politiker, die weder die Eurokrise noch die aufgeschobene Fiskalklippe nachhaltig lösen werden. Gelöscht werden nur die Brände, die ein Desaster auslösen können. Aber das reicht nicht. Die Unternehmensgewinne und das Wirtschaftswachstum werden tendenziell stagnieren, weil positive Makro-Impulse fehlen. Nach diesem Basisszenario dürften angesichts des Niedrigzinsumfelds Aktien gegenüber Anleihen im Vorteil sein – allein die Dividendenrenditen von 3-4 % sprächen dann für europäische und amerikanische Standardwerte.
Nach diesem Basisszenario könnten sich mangels Anlagealternativen Aktien durchaus ordentlich entwickeln. Wie stark, hängt davon ab, wie sehr sich die bisher risikoaversen Anleger Aktien schönreden werden. Es spricht einiges dafür, dass europäische Anleger den 2012 stark gestiegenen Kursen nachlaufen werden (lesen Sie mehr zum Investitionsverhalten europäischer Anleger hier). Allerdings würde nach diesem Szenario eine erhöhte Rückschlaggefahr für Aktienanleger drohen, denn je stärker die Kursgewinne ohne eine Neubewertung der Unternehmenswerte (auf der Grundlage steigender Gewinne) ausfallen, desto teurer wären Aktien.
Szenario 2: Die Bären gewinnen die Überhand
Die Eurokrise kommt spätestens mit der italienischen Parlamentswahl im Frühjahr mit voller Wucht zurück, und die USA schlittern doch über die Fiskalklippe. Dieses Szenario wird durchaus von einigen Marktteilnehmer gespielt, wie ein Blick auf die implizite Volatilität zeigt; sie ist auf Sicht von 3 Monaten deutlich höher als die aktuelle Marktvolatilität. Wenn Sie eine derart gelagerte Verschlechterung des gesamtwirtschaftlichen Umfelds mit negativen Konsequenzen für die Unternehmensgewinne erwarten, dann wären Aktien gegenüber Anleihen im Nachteil. Wenn die Weltwirtschaft sich deutlich abschwächt und die USA und Europa in die Rezession rutschen, werden - wieder einmal – Treasuries sowie deutsche und Schweizerische Staatsanleihen gefragt sein. Auch der Goldpreis dürfte dann zu neuen Höhenflügen ansetzen.
Szenario 3: Die Bullen sind los!
Nach dem optimistischen Szenario würden sich Eurokrise und Fiskalklippe in den USA in Wohlgefallen auflösen, die Weltwirtschaft erhält einen Schub. Anleger hätten dann beste Chancen auf ein weiteres phantastisches Aktienjahr. Dann wären sichere Staatsanleihen nur magere Kost. Gold dürfte ebenfalls weiter auf der Stelle treten, wogegen die Preise von Industriemetallen haussieren würden. In diesem Fall wär zu erwarten, dass die substanziellen Kursgewinne von einer Neubewertung der Unternehmenswerte begleitet würden: Aktien wären dann also auch auf deutlich höheren Niveaus nicht notwendigerweise teurer als heute.
Nach dieser bewertungsorientierten Standortbestimmung heißt es also nun für die aktiven Anleger: Faites vos jeux!